Atze Pöhlein, Inhaber der Diskothek Roxy, findet seine Freundin Bibi nackt auf der Straße, nachdem sie wieder Heroin genommen hat. Er ahnt, daß sie die Drogen von Drogenbote Richie erhalten hat, sucht ihn auf und erwischt ihn mit einem Kilogramm Heroin. Er bedroht Richie mit der Waffe und nimmt das Heroin an sich. Zunächst plant er, den Stoff zu vernichten, will dann den Verkauf an die eigentlichen Dealer selbst übernehmen, um Bibi mit dem Geld einen Entzug in einer Schweizer Klinik zu ermöglichen. Sie ist in der neunten Woche schwanger und will endlich clean werden; beide wollen eine Familie gründen.
Bei der Stoffübergabe ist überraschend die Polizei, darunter Vera Bilewski und ihr Partner Heiner Speth, anwesend. Die Dealer schießen auf Vera, die am Arm getroffen wird, während Atze mit dem Heroin davonläuft. Heiner bringt ihn nach längerem Sprint zu Fall. Beide kennen sich, war Atze doch einst mit Heiners Schwester zusammen, die ebenfalls heroinabhängig war und sich noch minderjährig das Leben nahm. Atze überzeugt Heiner davon, nicht auf Vera geschossen zu haben, und Heiner läßt ihn laufen, nachdem er zuvor die Drogen an sich genommen hat.
Heiner verwischt die Spuren, so löscht er die Videobänder, die die Drogenübergabe zeigen. Vera wird mißtrauisch und gibt die Kassetten der Polizeitechnik. Die stellen fest, daß die Bänder ursprünglich bespielt waren und erst nachträglich gelöscht wurden. Die Dealer wenden sich unterdessen an Richie, der die konfiszierten Drogen von der Polizei zurückkaufen soll. Bald wird klar, warum die Polizei am Tag der Drogenübergabe vor Ort war: Richies Ex-Freundin Anja, die das gemeinsame Kind aufzieht, wußte, daß Richie an dem Abend ein großes Ding drehen will. Da sie im Roxy beobachtete, wie Richie immer jüngere Frauen zum Drogenkonsum brachte, zeigte sie Richies Pläne bei der Polizei an. Daß nun Atze erwischt wurde, tut Anja leid.
Zufällig lernt Vera Atzes Mutter kennen und erfährt schließlich beim Besuch von Heiners Mutter, daß Heiners Schwester und Atze einst ein Paar waren. Heiner gerät unterdessen immer mehr in Schwierigkeiten. Nach einer mit Atze durchzechten Nacht wacht er neben Richies Leiche auf. Anschließend wird er von den Dealern zu ihrem Chef Dr. Weihrauch zitiert, der ihm deutlich macht, auf einem Rückkauf des Stoffs zu bestehen. Der jedoch befindet sich in Heiners Bureau. Vera wiederum hat ihm in der Zwischenzeit die Mitarbeit am Fall entzogen, da er die Ermittlungen wissentlich behindert hat, um Atze zu decken.
Bibi, die von Richie nun nicht mehr mit Heroin versorgt wird, leidet am kalten Entzug. Atze bringt sie zu seiner Mutter, wo er auf Vera trifft. Vera will ihn festnehmen, doch kann Atze der infolge der Schießerei einen Gips tragenden Vera leicht entkommen. Vera hat für die weiteren Ermittlungen zunächst Heiner entlastet, der für den Zeitraum von Richies Ermordung ein Alibi hat. Eines Abends steht Heiner vor ihrer Tür. Er hat bei den Ermittlungen Fehler gemacht, wie er zugibt, will sich nun jedoch rehabilitieren. Der Stoff soll den Dealern zum Kauf angeboten werden, wobei die Polizei die Übergabe für eine Festnahme nutzen soll. Vera stimmt zu. Am Ende können die Dealer tatsächlich festgenommen werden. Heiner läßt Atze mit dem Geld für die Drogen entkommen, da nur so Bibis Entzug finanziert werden kann. Heiner verteidigt sein Vorgehen vor Vera, sei das Drogengeld doch so gut angelegt. Vera meint nur, daß sie nun tatsächlich nichts mehr für ihn tun könne.
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Nachts in einer Tiefgarage. Ein Wagen braust heran, stoppt mit quietschenden Reifen vor Atze, der ein Kilogramm Heroin bereithält. Als die Dealer aussteigen, tritt Kommissarin Bilewski mit gezogener Waffe aus dem Hintergrund. Es fallen Schüsse. Die Kommissarin sinkt getroffen zu Boden. Die Dealer flüchten. Doch Heiner Speth, Bilewskis Assistent, ist Atze dicht auf den Fersen. Er überwältigt ihn, nimmt ihm den Stoff und die Waffe ab und ... läßt ihn laufen.
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Atze ist ein liebevoller, aber kämpferischer Chaot, der davon träumt, mit seiner Freundin Bibi eine richtige Familie zu gründen. Irgendwo ganz weit weg wollen die beiden ihr noch ungeborenes Kind aufziehen. Doch Bibi ist heroinsüchtig und zudem noch minderjährig. Für einen Entzug in einer Schweizer Klinik, in der „keine dummen Fragen gestellt werden“, fehlt das Geld. Auch Atzes Job als Geschäftsführer in einer Diskothek bringt nicht genügend ein.
Doch für Bibi ist Atze bereit, alles zu wagen. Als er entdeckt, daß sein Kompagnon Richie, der Bibi immer wieder heimlich mit Stoff versorgt, im Besitz eines Kilos Heroin ist, sieht er für sich eine einmalige Chance. Richie soll noch am selben Abend die Drogen an eine Dealerbande übergeben. Doch Atze entwendet ihm gewaltsam den Stoff. Er selbst will als Bote fungieren und das Geld in die eigene Tasche stecken. Dabei bedenkt er nicht, daß er Richie damit in Lebensgefahr bringt.
Mit dem Deal hofft Atze, alle seine Probleme mit einem Schlag lösen zu können. Doch die Übergabe in der Tiefgarage platzt. Kommissarin Bilewski und ihr Assistent Heiner Speth schreiten ein. Als Heiner Atze festnehmen will, erkennt er in ihm einen alten Freund. Überrumpelt von dieser Begegnung, läßt er ihn laufen. Aus Loyalität zu Atze behindert Heiner die weiteren Ermittlungen und gerät so immer tiefer in einen unlösbaren Konflikt.
Bedrängt von den Dealern, die auf der Jagd nach dem Heroin sind und der Polizei, die nach dem Schuldigen fahndet, kämpfen Atze und Bibi um die Chance auf eine bessere Zukunft, Heiner um seine berufliche und menschliche Integrität und Richie ums nackte Überleben.
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Kleine Dealer, große Träume von Urs Odermatt war 1996 filmästhetisch ein Novum am Sonntagabend. Entsprechend galt dieser Polizeiruf 110 mit der traumhaften Besetzung Angelica Domröse, Dominic Raacke, Jürgen Vogel und Nadja Uhl in einer ihrer ersten Rollen als zu ungewöhnlich für das Primetime-Publikum. (...) Man darf gespannt sein, wie der Film heute wirkt...
Eine junge Frau rennt nackt durch die schwäbische Nacht. Dazu dröhnt der Cranberries-Hit Zombie. Ein ungewöhnlicher Einstieg in einen Polizeiruf 110. Auch später, wenn ein Kripobeamter zum Striptease ansetzt oder sabbernde Fratzen in die Kamera lachen, hat man mitunter den Eindruck, als ob Kafka das Drehbuch redigiert und ein Nachwuchs-David-Lynch Regie geführt habe. Kleine Dealer, große Träume von Urs Odermatt ist ungewöhnlich – noch zu ungewöhnlich für das deutsche Primetime-Publikum?
Rainer Tittelbach
Trotz Mittagszeit und Nieselregen herrscht auf der Epplestraße in Degerloch reger Verkehr. Vor einer Apotheke parken große Lastwagen in dichter Reihe. Hastig betritt ein Mann mit einer Kabelrolle das Treppenhaus, aber auf halber Höhe zum zweiten Stockwerk ist für ihn kein Durchkommen mehr. Auf den Stufen sitzt ein Mädchen mit Handfunkgerät: „Ruhe, es wird gerade gedreht.“ – In einer Degerlocher Frauenarztpraxis ist gestern eine Szene von Polizeiruf 110 aufgenommen worden. Die Folge unter der Federführung des Süddeutschen Rundfunks (...) spielt aber nicht in Stuttgart, sondern in Heilbronn und in der fiktiven Kleinstadt Ichtesheim.
Regisseur Urs Odermatt, der eigentlich in Zürich zuhause ist, legt als Kulisse Wert auf Orte und Räume, in denen sich seit zwanzig Jahren nichts verändert hat, „denn moderne Motive haben halt keinen Charakter“, erzählt er in einer Drehpause.
Tatsächlich ist die Praxis – soweit man hinter den Stellwänden und den aufgetürmten Gerätschaften sehen kann – eine von der betagt-gemütlichen Sorte: Die Wände ziert eine dezente Blütentapete und überall hängen dicke Ölgemälde. Jetzt geht es allenthalben sehr eng zu: Das Wartezimmer ist zur Maske hergerichtet, im Flur steht das fahrbare Tonstudio und das Kamerateam hält das Badezimmer für seine Utensilien besetzt.
Die Handlung der Szene, die am Abend „im Kasten“ sein muß, ist rasch erzählt: Der junge Atze hat seine drogensüchtige und schwangere Freundin Bibi zum Frauenarzt gebracht. Nach der Untersuchung versucht er vergeblich, den Arzt zu überreden, ihr Methadon zu verschreiben. Das Licht ist aufgebaut, die Kamera eingestellt, die Proben sind beendet und jetzt drängen sich acht Menschen im kleinen Sprechzimmer. Neben Regisseur Odermatt und seiner Assistentin gehören auch Beleuchter, Kameraleute, Mikrophonhalter und der Mann mit der Klappe zum rund dreißigköpfigen Team.
Einstellung 57/4/1 kann nun endlich abgedreht werden. Die Kamera ist auf den jungen Berliner Schauspieler Jürgen Vogel gerichtet. Seinen Gesprächspartner, den Doktor Hildesheimer, spielt Gottfried Breitfuss, der zum Ensemble des Stuttgarter Staatstheaters gehört. Am vorletzten Drehtag herrscht Routine auf dem „Set“. Jürgen-Atze verlangt Apfelsaftschorle zwischen den Einstellungen. Inzwischen liegt die Neuentdeckung Nadja Uhl als bleichgeschminkte Bibi ruhig auf der Behandlungsliege im Nebenraum, bis das Kommando des Regisseurs erschallt: „Und bitte ...“
Daniela Mack
„Polizeiruf 110“ in Degerloch –
TV-Aufregung in der Arztpraxis
Stuttgarter Zeitung, 2. Juni 1995
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Heiner Speth
Die Nase aus dem Labor schaut mich nur noch mit dem Arsch an.
Vera Bilewski
Ach.
Heiner Speth
Steckst du dahinter?
Vera Bilewski
Ja.
Heiner Speth
Wer ermittelt in diesem Fall?
Vera Bilewski
Ich.
Heiner Speth
Und ich?
Vera Bilewski
Heiner, darüber müssen wir reden.