„An der HP zwei merkte ich, daß der Abend vier Stunden lang war“
Schwarze Ninjasoldaten seilen sich mit ballernden Kalaschnikows von der nächtlichen Decke ab und schmeißen Handgranaten unter die Zuschauerbänke, Explosionsfeuer sprüht, Mündungsfeuer blendet, eine Ku-Klux-Klan-Meute trägt ein brennendes Kreuz durch den Saal, infernaler Kriegslärm betäubt die Ohren, in einer Folterszenen wird die Señora zum Geständnis an einen gefährlich auf Kopfhöhe an der Decke pendelnden Pflasterstein gezerrt, ungleiche rituelle Ohrfreigenduelle zwischen dem bulligen Soldaten mit offener Rechnung und dem schmächtigen Andri, der mit glühender Wange nicht feige sein will (bis die Zuschauer eingreifen), dazu fieses Russisches Roulette mit dem Gemächt des jungen Underdogs – dann, mitten in der plötzlichen Schlachtruhe, wimmert minutenlang ein junges Kätzchen einsam auf der Bühne; alles geschieht – von Scheinwerferlichtkegeln geführt – parallel und gleichzeitig, wie in einem Leichtathletikstadion. Oder nichtadditiv montiert in einem postmodernen Film. Die Zuschauer sitzen wie in einer Arena auf allen vier Seiten; die Pechvögel, die auf der eigentlichen Bühne sitzen, lernen den Bühnenlift als Achterbahn kennen.
Bei seiner allerersten und gleich mächtig üppigen Theaterinszenierung brachte Urs Odermatt in Halle (Saale) den Intendanten Peter Sodann ins Schwitzen. Siebenundzwanzig Jahre später erzählt Urs Odermatt von seinem ambitionierten Scheitern.
Wie kam es zu dieser Inszenierung?
Bei der Suche nach der Besetzung des Wachtmeister Zumbühl in Wachtmeister Zumbühl stieß ich in Bernhard Wickis Sansibar oder der letzte Grund nach Alfred Andersch und in Roland Gräfs Der Tangospieler neben dem wunderbaren Michael Gwisdek beide Male auf Peter Sodann. Ich wollte ihn kennenlernen und schickte als Visitenkarte meinen Film Gekauftes Glück nach Sachsen-Anhalt. Sodann meldete sich und lud mich zu einem volkseigenen Aprikosenlikör ins Neue Theater ein. Halle (Saale) – heute ein Schmuckstück – war damals noch eine Ruine mit Gebraucht-Benz vor der Tür und Satellitenschüssel auf dem lecken Dach. In der mit vor dem Verramschen geretteten Ostbüchern tapezierten Theaterkneipe sprachen wir über Theater, nicht über Film. Intendant Peter Sodann hat mich ins kalte Theaterregiewasser geworfen.
Die Wahl fiel auf Max Frischs „Andorra“?
Peter Sodann wollte als ersten Westler an seinem Haus keinen Wessie. Auch keinen Österreicher, die seien so..., was weiß ich. Also einen Schweizer. Der Schweizer brauche ein Schweizer Stück, damit er es verstehe. Dürrenmatt machte der Hausherrr selbst. Blieb also Max Frisch. Ein Stück über Rassismus und Ausgrenzung: paßt.
Wie war das Konzept für Deine erste Bühnenarbeit?
Konzept ist für alte Hasen. Ich wollte als Anfänger einfach machen. Ging entsprechend schief. Das Konzept hieß wohl: angstfrei.
Wie war die Halle (Saale)?
Heiß. Vor allem im Winter. Die Fernheizung ließ sich regulieren – durch Aufreißen der Fenster. Ich ließ mich auf einen kreativen Autotausch während die Probezeit ein. Statt meines flüsternden V6-Granada Kombi fuhr ich sechs Wochen einen 2-Takt-furzenden Wartburg. Daß nur die Gänge eins und vier gingen, sagte mir vorher keiner. Jeder in der Stadt hörte (und roch) jederzeit, wo ich war.
Die Schauspieler waren immer alle auf der Bühne. Wie fanden sie das?
Ich wollte vor der Probe stets anrufen, wen ich heute brauche und wen nicht. Damals gab’s im Osten noch keinen Funkruf, und die einzige Zelle vor der Theaterwohnung in der Platte in Halle-Neustadt war entweder außer Betrieb oder mit Schlange versehen. So waren halt immer alle da, und ich habe alle beschäftigt.
Und die Zuschauer?
Sie haben gestöhnt, weil nach vier Stunden an der Première der Hintern schmerzte, aber sie sind geblieben. Vielleicht, weil sie sich gewundert haben, wie wir alle diese rasend gefährlichen Effekte bei der Sicherheit durchgekriegt haben. Unter uns gesagt, hatte ich nicht den Eindruck, daß es zur Wendezeit bei den Theatern im Osten eine Sicherheit gab. Ich konnte mich also mit der von meinem Regieassistenten Enrico Urbanek besorgten „blinden“ Munition aus alten Restbeständen der Russen austoben.
Was meinte Peter Sodann zur Überlänge?
Er hat mehr geduldet als gebilligt und war sauer, weil die Premièrengäste den letzten Zug verpaßten und Taxigutscheine fällig wurden. Sodann hat den Abend nach der Première auf zivilisierte Länge gekürzt und meine Inszenierung über drei Spielzeiten gespielt. Andorra haben im Neuen Theater in Halle (Saale) fast so viele Leute gesehen wie in Andorra Leute leben.
Gespräch mit Jasmin Morgan
alte Sprinnerei 1, Windisch, 18. Oktober 2020
Der Männerkuß mußte weg – dann fand die Première statt. Heute gäbe es andere Probleme und keine Première.
Urs Odermatt
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„Wachtmeister Zumbühl“ bedeutet nach dem Theaterflop die Rückkehr zu den Wurzeln...
Theaterflop? Sie übernehmen die Ansicht der konservativen Theaterleitung, die mit meiner modernen Inszenierung nicht zurechtkam.
Ihre Theaterkarriere ist nicht zu Ende?
Nein. Ich hoffe, in Zukunft hälftig für die Bühne und den Film zu arbeiten.
Vinzenz Hediger
Die Bilderwelt der Familie Odermatt
Blick, Zürich, 16. November 1993
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Schlagfertig.
Rudolf Santschi
Produzent
Triluna Film AG, Zürich