Der Mythos Arnold Odermatt
Hinter den sieben Bergen photographiert ein einfacher und amtsmilder Polizeibeamter ein ganzes Leben lang Meisterwerke, und keiner weiß es. Dann schnippt das Schicksal mit dem Finger, und der Photograph ist weltberühmt. – Leider ist das Leben mehr Hamlet als Schneewittchen: Ohne Blut, Schweiß und Tränen klopfen Glück und Erfolg nicht an.
Der Erfolg eines Einheimischen im Ausland ist immer etwas Ersprießliches, zeigt er doch, daß auch eine winzige politische Einheit wie Nidwalden eine Stimme in der Welt haben kann, zumindest auf kulturellem Gebiet. Wenn – wo der Zeitgeist nur der Jugend kreative Höhenflüge zutraut, und alles nach fünfundzwanzig altersmüffelt – ein Beamter im Ruhestand zum Tagesgespräch der internationalen Kunstszene wird, entlockt dies dem leidenschaftlichsten Neider ein mildes Lächeln. Wie kommen die schwarzweißen Karambolagen des damals fast achtzigjährigen Polizisten Arnold Odermatt aus Stans an die 49. Biennale für zeitgenössische Kunst nach Venedig und in die wichtigsten nordamerikanischen Photosammlungen? Und, nach dem Umweg um die halbe Welt, wieder nach Nidwalden, in die Heimat des Künstlers?
Am Anfang stand der Wunsch nach einem Buch mit eigenen Arbeiten. Wie jeder Photograph dachte Arnold Odermatt an Farbbilder, die die Schönheiten seiner Heimat von der prächtigsten Seite zeigen. Ich gebe zu, ich habe gezögert, als er mich um Schützenhilfe bat. Zu viele halbbatzige Büechli mit bunten Farbföteli gibt es auf dem Markt, als daß ich diesen Stapel um ein weiteres ergänzen wollte. Der entscheidende Einfall kam, als ich bei der Motiv- und Stoffrecherche für den Spielfilm Wachtmeister Zumbühl das Archiv meines Vaters Arnold Odermatt im Speicher wiederentdeckte und die Bedeutung der Arbeiten erkannte: ein Buch mit dem Lebenswerk eines photographierenden Polizisten. Das hatte ich in keinem der Verlagsprogramme gesehen. Eine Marktlücke! Authentisch. Im Dienst und in zivil. Da allerdings hat Arnold Odermatt gezögert: Er wollte ein Buch mit modernen Farbaufnahmen. Nicht eines mit dem alten Chabis der Schrottautos!
Seit ich mich erinnere, galt seine photographische Leidenschaft dem Schwarzweißmaterial. Es sind – wenn ich ehrlich bin – vor allem Erinnerungen an beißende Gerüche aus dem elterlichen Badezimmer. Da die Nidwaldner Polizei lange Zeit kein eigenes Photolabor besaß und Arnold Odermatt als rechtschaffener Beamter auch später seine zivilen Photos ohne Rücksicht auf unsere Nase im privaten Badezimmer – nicht im Dienstlabor – entwickelte und vergrößerte, hat sich in meiner Jugend die Photographie als die sehr übelriechende Sparte der zeitgenössischen Kunst eingeprägt. Dies im Gegensatz zu meinen schulromantischen Vorstellungen von Kunst, die ich mir vielleicht häßlich, aufrüttelnd und verstörend vorstellen konnte, aber wohlriechend an der weißen Wand und nicht von so gräßlichem Gestank wie jener, der aus unserem Badezimmer kam. Vielleicht habe ich deshalb die Arbeiten so spät entdeckt.
Freunde erzählen von Reisen ins Ostpreußen ihrer Familie mit dem Ziel, zu sehen, was sich aus den Erzählungen über das alte Königsberg im heute russischen Kaliningrad noch findet. Größer als Entsetzen und Verlustschmerz ist die Ratlosigkeit: Zu vergleichen gibt es nichts, weil in der Stadt Immanuel Kants kein Stein steht, wo er vor dem Krieg stand. Die Stadt ist ganz einfach eine andere. Wollen Besucher die Schauplätze von Arnold Odermatt sehen, habe ich vergleichbare Probleme. Nicht, daß ich die Motive nicht wiederfände – die Gäste weigern sich, zu glauben, daß sie da stehen, wo die Kamera seinerzeit stand. Der Weg, den Nidwalden in der vergangenen Jahrhunderthälfte gemacht hat, ist im Zeitraffer des photographischen Vergleichs keine Evolution, sondern – zumindest straßenbaulich – eine Revolution. Nidwalden brauchte dazu keinen Großen Vaterländischen Krieg; die völlige Umwälzung der Dorf- und Landschaftsbilder hat die Moderne hier ganz allein geschafft.
Nicht jede Veränderung ist schlecht, nein, viele Bequemlichkeiten geben wir um keinen Preis wieder her. Doch während das Neue die Chance hat, sich zu bewähren und wieder zu ändern, bleibt das Vergangene vergangen und hinweg. Für immer vergessen, hätte nicht Arnold Odermatts Rolleiflex das alte Nidwalden – statt in halbscharfen Schnappschüssen – mit Polizistenblick und Photographenhandwerk in einem protokollnahen Bildertagebuch dokumentiert. Daß die Photos später sozial- und kunsthistorisch gelesen werden, hat er damals kaum gedacht.
Warum wurde die Bedeutung der Photographien von Arnold Odermatt nicht früher erkannt? Gebrauchsphotos erfahren ihre Wertschätzung durch die Zeitläufte. Ein Los, das er mit vielen Kollegen teilt. Nidwalden – alles andere als eine Hochburg der Urbanität – war im Wechselspiel kultureller Moden und Trends kein schneller Brüter. Im lokalen Umfeld war Arnold Odermatt als routinierter (und preisgünstiger) Handwerker geschätzt, weiter aus dem Fenster lehnt man sich hier nicht. Der Zweckcharakter aller Photos des Dorfpolizisten, der diese besessen und mit großem handwerklichen Können, aber ohne berechnende Absicht oder künstlerischen Entschluß machte, verleiht den Arbeiten die entwaffnende Glaubwürdigkeit, die Kuratoren und Sammler auf der ganzen Welt schätzen. Den Umweg der Wertschätzung des Werks über das Ausland muß Arnold Odermatt nicht als erster Schweizer Künstler hinnehmen. Jeder kennt das Sprichwort vom Propheten im eigenen Land.
Was ist das besondere an diesen Photographien? Was unterscheidet die Arbeiten von den Werken anderer Photographen? Das Was. Und das Wie. Die Arbeit hat im Leben eines Polizisten einen hohen Stellenwert – die Motive und die faktische Macht der Uniform, die der Alltag im Bureau wie auf der Straße preisgibt, spielen in seinen Photos eine große Rolle. Motive, die für andere Photographen unerreichbar sind, wie John Waters bei der gemeinsamen Ausstellung in Winterthur eifersüchtig erwähnte. Anders als die Dienstbilder der Kollegen oder die Schnellschüsse der Lokalpresse, unterwirft Arnold Odermatt die Aufnahmen dem eigenen Blick auf die Welt, einem Blick, der Ordnung und Übersicht sucht: saubere Schweiz – auch im Falle einer Havarie. Kein Blut. Keine Verletzten. Keinen Dreck. Und wenn, dann ordentlich arrangiert und mit klaren bildgestalterischen Bezügen. Seine geometrische Bildsprache bringt die Coolneß der sechziger Jahre ins verschlafene Nidwalden.
Eine Aufsicht von der gesperrten Straßenmitte gibt die beste Übersicht. Arnold Odermatt hat es sich zur Regel gemacht, die Bildstraße jedes Schadenfalls mit einer Aufnahme vom Dach des amtlichen VW-Busses abzuschließen. Er ist ohne Scheu, mit hochgekrempelter Uniformhose in den See zu waten, wenn das Abenteuer das besseres Bild verspricht. Je mehr er die Karambolagen inszeniert, komponiert, gestaltet, desto mehr bekommen die Photos den strengen Dienstcharakter, wie Fiktion den Kern einer Sache oft wahrhafter trifft als recherchierte Dokumentation. Arnold Odermatts Identifikation mit der Polizeisicht geht so weit, daß die zivilen Arbeiten, die privaten Familienbilder, aussehen, als trage der Photograph bei der Aufnahme die Uniform. Es sind die Sprödheit der Inszenierung, die Strenge der Bildgestaltung, der kompromißlose Minimalismus, die Arnold Odermatt für ein urbanes Publikum so attraktiv machen. Wie dem unbekannten, doch vertrauten Verwandten, von dem man nie weiß, ob er uns lästig oder lieb ist, kann man den Photos nicht aus dem Weg gehen, weil sie modern und doch provinziell sind wie wenige. Auch und gerade, weil wir Nidwalden, die Schweiz und die Welt heute lieber ganz anders sehen möchten.
Ein Blick ins Netz zeigt, daß in kaum einem Land die Aufnahmen von Arnold Odermatt nicht zu sehen sind. Die Reise der Photos aus Nidwalden um die Welt begann im Herbst 1998, als die Schweiz Gastland der 50. Frankfurter Buchmesse war und Christoph Vitali, der Leiter des Schweizer Auftritts, zahlreiche Positionen aus der Werkgruppe Karambolage im alten Frankfurter Polizeipräsidium zeigte. Dr. Beate Kemfert, spätere Leiterin der Opelvillen Rüsselsheim, kuratierte in Frankfurt am Main diese erste wichtige Einzelausstellung von Arnold Odermatt und weckte das Interesse der Galerie Springer Berlin, Heide & Robert Springer, am Werk. Die alteingesessene Galerie an der Charlottenburger Fasanenstraße vertritt die Arbeiten von Arnold Odermatt seit zwanzig Jahren exklusiv. Eine seltene Erfolgsgeschichte: Harald Szeemann lud Arnold Odermatt an die 49. Biennale di Venezia ein, James Rondeau zeigte Arnold Odermatt am The Art Institute of Chicago, Urs Stahel feierte Arnold Odermatt am Fotomuseum Winterthur, und Gerhard Steidl (Steidl Verlag, Göttingen) verlegt Karambolage, Im Dienst, In zivil und Feierabend, die vier Werkgruppen, die ich bis jetzt mit den Photographien von Arnold Odermatt herausgegeben habe.
Urs Odermatt
nach: Notizen zu einer späten Karriere
Nidwaldner Kalender, Stans 2002
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Als Arnold Odermatt 1990 pensioniert wurde, blickte er nicht nur auf zweiundvierzig Berufsjahre bei der Nidwaldner Polizei zurück, er hatte Pläne für die Zukunft: ein Buch mit Landschaftsphotographien. Die Photos der Autounfälle, die er für die Polizei angefertigt hatte, konnten die Landschaft bestenfalls als Nebenfunktion dulden. Alles, was die Bilder von Arnold Odermatt so kunstvoll erscheinen läßt – es war für die juristische Verwertung der Photographien bestenfalls nichtstörendes Beiwerk.
Es muß in den Jahren, in denen Arnold Odermatt die juristische und versicherungswirtschaftliche Tatsachenfeststellung mit seinen Photos polizeidienstlich korrekt beliefert hat, ein anderes Element gegeben haben, eine künstlerische Verselbstständigung innerhalb dieser photographischen Praxis, einen Überschuß: Die Photos waren von Anfang an viel zu gut, viel zu nuanciert, viel zu szenisch gekonnt cadriert, reduziert und abstrahiert, um nur Gebrauchsphotos für die Polizei zu sein. In diesem Überschuß, in diesem Viel-zu-gut-Sein für den funktionalen Zweck, steckt die tiefe Komik der Photographien von Arnold Odermatt. Man muß sich das vorstellen: Da knallt es, alle laufen durcheinander – tatütata, die Polizei kommt – und einer stellt sich hin und macht Photos, die den Moment meilenweit überragen und überdauern – lange, nachdem die Versicherungen gezahlt und die Alkoholsünder ihren Führerschein zurückerhalten haben.
1990 beschließt Arnold Odermatt, der während seiner Berufsjahre stillschweigend und eulenspiegelhaft die visuelle Doofheit faktenversessener Versicherungs- und Justizfachleute mit seinen viel zu kunstvollen Photographien grotesk überboten hatte, sich dem immer an die Seite gedrängten Eigentlichen seines photographischen Könnens zu widmen. Er bittet seinen Sohn, Urs Odermatt, um Unterstützung für ein Buchprojekt mit Landschaftsphotographie, und der Sohn, ein Film-, Fernseh- und Theaterregisseur, ahnt sofort die Gefahr, daß der Vater gegen sein eigentliches Talent etwas Konventionelles produzieren könnte.
„Wenn ein Buch, dann mit deinen Polizeiphotos“, fordert der Sohn. Er sieht, daß das Eigentliche nicht die an den Rand gedrängte Landschaft und die photographische Professionalität jenseits und abgetrennt von der Unfallsituation sind, sondern daß das Eigentliche der Photographien von Arnold Odermatt in der unglaublichen und grotesk engen Verknüpfung von banalem Alltagsgeschehen und landschaftlich-romantischer Überhöhung liegt, von funktionalem Beweiszweck und theatralischer Inszenierung durch den Photographen, der Beleuchtung, Standpunkt, Cadrage und die Inszenierung der Requisiten wie ein Regisseur wählt.
Liegt das Eigentliche dieser Photographien nicht gar darin, daß uns Odermatt am dokumentarischen Realitätsgehalt von Photographie zweifeln läßt, wenn wir die kinoartig über den Abgrund taumelnden Autowracks und die kopfstandübenden Kraftfahrkörper sehen? Nutzt Odermatt nicht das Realismusmedium Photographie, um uns zweifeln zu lassen, wie realistisch kalkulierbar eine Realität ist, in der es sehr plötzliche Richtungsänderungen oder absolut verbindliche Halts geben kann, verbindlich bis zur Todesfolge? Was uns auf den ersten Blick an diesen Photos sachlich und ernst erscheint, entpuppt sich auf den zweiten Blick als absurd und komisch. Und auf den dritten Blick erscheinen uns diese Bilder – und das ist vielleicht ihre tiefste Wirkung – komisch und todernst zugleich.
Dr. Matthias Winzen
Viel zu gut für die Polizei
Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, 2. März 2003
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Plötzlich waren die Bilder Kunst – in Stans argwöhnisch beobachtet! Unlängst noch hat die Wiesenberger Älplergenossenschaft gelacht, als er schwere Lampen auf die Alp schleppte. Arnold Odermatt wollte die Sennenhütte perfekt ausleuchten. Heute photographiert jeder jeden und alles, und kaum einer kann es. Nicht so Arnold Odermatt. Er nimmt sich viel Zeit für das Außerordentliche und schult sein Auge. Und er hat das Glück des historischen Moments: Es war die Zeit, in der unser heutiger Lebensstil erfunden wurde. Bei Odermatt entdecken wir die Archäologie unseres Lebens. Nidwalden war dafür perfekt: Erst Sackgasse – dann mit Bahnanschluß und Transitautobahn. Modernisierung im Zeitraffer.
Ich leite als Zürcher das Nidwaldner Museum und werde oft gefragt, wie das gehen soll. Einheimische kennen hier alles. Sie sehen aber nicht, wo das Besondere liegt. Wie wir Zürcher die Zürcher Arroganz nicht sehen; die sehen nur die Nidwaldner! So ist es Arnold Odermatt ergangen. In Nidwalden hat niemand den Wert der Arbeiten erkannt. Die Distanz fehlte. Draußen in der Welt wurden sie entdeckt. Jetzt zeigen wir sie im Nidwaldner Museum und freuen uns, daß die Photos nach Hause kommen.
Stefan Zollinger
Argwöhnisch beobachtet
Nidwaldner Museum, Stans, Eröffnung der Ausstellung „Das Dorf als Welt“, notiert von Jasmin Morgan, 21. September 2013
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Es war die Zeit, in der man junge Männer „rassig“ nannte. Oder „flott“. So einer, ein rassiger, flotter Bursche, war der junge Arnold Odermatt, geboren 1925, Polizist in Stans. Seine ehemalige Kollegin im Sekretariat war ein bißchen verliebt in ihn. Sie ging extra zum Coiffeur, als er ankündigte, sie am nächsten Tag zu photographieren. Dieser Polizist, der Ende der vierziger Jahre vor allem im Bureau saß und Pässe ausstellte, war im Grunde Photograph, ja Künstler. Wobei er dieses Attribut erst lange nach seiner Pensionierung zugesprochen bekam. Es war eine der ungewöhnlichsten Kunstkarrieren der Schweiz, wie Gitta Gsell in ihrem 50minütigen Dokumentarfilm Karambolage – Die Welt des Arnold Odermatt belegt.
Odermatts Werk entstand damit, daß er als Polizist Unfälle photographisch festhielt – zur Dokumentation. Ein ziemlich revolutionäres Unterfangen damals, Anfang der fünfziger Jahre, als die Justiz der Photographie als Beweismittel noch nicht traute. Im Film erzählt Odermatt, wie sein Vorgesetzter erst skeptisch war, ihn angesichts der Beweiskraft seiner Bilder aber doch unterstützte. Aus polizeilicher Sicht waren die Photographien, die Odermatt in der Dunkelkammer so bearbeitete, daß jedes Detail perfekt ausgeleuchtet war, ausgesprochen aussagekräftig. Daß diese Aussagekraft auch künstlerischen Wert hatte, erkannte der Kurator Harald Szeemann als einer der ersten; er stellte Odermatts Photographien 2001 an der Biennale in Venedig aus. Szeemann fand die „Schönheit der Moderne“ in diesen Unfallbildern, die etwas seltsam Aufgeräumtes haben. Wenn Odermatt den Ort des Unfalls photographierte, waren die Verletzten und Toten längst weggebracht, die Scherben aufgewischt. Zu sehen sind nur noch die zerbeulten Automobile, die Bremsspuren, die mit Kreide markierten Fundstellen der Opfer. Es sind stille Zeugnisse von dramatischen Geschehnissen, eingefangen mit einem außergewöhnlichen Sinn fürs ästhetische Tableau. Fast zärtlich wickeln sich die Wracks um Bäume, wie traurige Augen schauen die Scheinwerfer halb versunkener Autos aus dem See, wie Liebende im Kuß sind zwei frontal kollidierte VW Käfer auf ewig vereint.
Als er seinen Dienst antrat, sagt Odermatt im Film, habe man im Kanton Nidwalden noch jeden gekannt, der ein Auto besaß. Wenige Jahre später änderte sich das – die Unfallzahlen schossen in die Höhe. Die wenigen Kantonspolizisten hatten nicht die Ressourcen, um Kontrollen zu machen. Man nahm die Unfälle als schicksalsgegeben hin. Eine protokollierende Nüchternheit wohnt auch in Odermatts Photographien (die Gsell leider mit einer allzu plakativen Tonspur untermalt). Sachdienlichkeit, ein scharfes Auge fürs Detail und ein Blick, der das Entscheidende herausschält, prägen auch jene Bilder, die er von seinen rassigen Polizistenkollegen machte – und die privaten Familienphotos. Ebenso erhellend wie die Rückblende in die Wirklichkeit der fünfziger Jahre sind in Karambolage – Die Welt des Arnold Odermatt die Zwischenschaltungen in den Kunstbetrieb. So spricht der Chefkurator des Lausanner Musée de l’Elysée vom hochspannenden Moment, in dem das Dokumentarische in Kunst umschlägt: Er sei in den Bildern Odermatts greifbar. Eine andere Expertin sagt, daß Odermatts Arbeiten in der Kunstwelt so beliebt seien, weil er scheinbar ohne künstlerische Absicht photographiert habe. Die Art von künstlerischer Unschuld, die Odermatt verkörpert, scheint das Faszinosum an seinem Werk zu sein. Warum? Was sagt diese – durchaus gönnerhafte – Haltung über den Kunstbetrieb aus? Vertieft werden diese Fragen in Gitta Gsells kurzem Film nicht. Dafür hält er fest, wie sehr der bescheidene Nidwaldner noch immer erstaunt ist über die Tatsache, daß seine Bilder in Museen und Galerien weltweit gezeigt werden – von New York bis Berlin. Und Bern. Er selbst habe befürchtet, daß seine 60’000 großformatigen Photographien dereinst im Kehricht landen werden, so Odermatt. Davon sind sie weiter entfernt denn je.
Regula Fuchs
Der Zauber des Zerbeulten – wie ein photographierender Kantonspolizist zum gefragten Künstler wurde
Die sagenhafte Karriere des Nidwaldners Arnold Odermatt, neu erzählt in einem kurzen Dokumentarfilm
Der Bund, Bern, 14. Mai 2014
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Die Uniform diente Arnold Odermatt als Freikarte für die exklusiven Plätze: Brauchte der Polizeiphotograph freie Sicht auf die Autobahn, sperrte er sie, um eine Leiter mitten auf die Straße zu stellen. Fand er, er könne einen Unfall besser vom Wohnhaus gegenüber sehen, läutete er, bat um Zutritt ins Schlafzimmer, zog die Schuhe aus und stieg aufs Ehebett, um aus dem Fenster zu knipsen, erzählt Urs Odermatt. Für ein gutes Bild war ihm kein Kran zu hoch, keine Bitte zu dreist: Wünschte Arnold Odermatt den Unfallwagen einen Meter weiter links, damit die Schaulustigen besser zur Geltung kommen, packten die Kollegen an. Sein Sohn mußte unzählige Male mit dem Fahrrad durch Wind und Regen fahren, in der Hand den offenen Schirm, damit der Vater ein einziges Mal abdrücken und den richtigen Moment auf Film bannen konnte. Das Bild diente als Anschauungsmaterial für schlechtes Benehmen im Straßenverkehr: Viele von Odermatts Photographien entstanden für eine Diavortragsreihe, die Kindern die Gefahren des Verkehrs und der Jugend die Vorzüge des Polizeialltags zeigen sollte. Polizist zu sein, war in den sechziger Jahren alles andere als angesagt. Um das Image aufzumöbeln, ließ Arnold Odermatt Kollegen an technischem Gerät hantieren oder mit der Waffe posieren. Er zeigte Uniformierte, die schnittige Motorboote und rassige Dienstwagen lenken. Oder photographierte sie oben ohne, mit vom Alltag gestärkten Muskeln. Bis er auf den Auslöser drückte, konnten Stunden vergehen, „darum ziehen alle eine Fresse“, sagt Urs Odermatt. Die Fresse als Markenzeichen. Sein Vater schoß mit der Rolleiflex immer nur ein einziges Bild. Alles andere war zu teuer. Zehntausende Photos entstanden so. Eines zeigt ein Reh auf dem Schoß des mißvergnügten Polizeichefs. Er und das verletzte Tier mußten auf dem Rücksitz des Dienstwagens ausharren, bis Odermatt den Moment zum Auslösen gekommen sah. (...)
Während sich Arnold Odermatt für den Polizeidienst und die Photos ins Zeug legte, beschloß Sohn Urs mit fünfzehn Jahren, von daheim auszuziehen, um bei seiner Freundin zu leben. Konkubinat war in Nidwalden ein Offizialdelikt, erinnert er sich. Um nicht gegen den eigenen Sohn dienstlich vorgehen zu müssen, empfahl Arnold Odermatt den Umzug ins benachbarte Obwalden und „sich still zu verhalten“. In Obwalden galt wilde Ehe nur als Antragsdelikt: Sollte sich kein Nachbar daran stören und Anzeige erstatten, könne er treiben, was er wolle, so Urs Odermatt. Der Pragmatismus des Vaters habe ihm das Leben erleichtert, sagt er, „dafür schätze ich ihn“. Vor dem Eintritt in den Militärdienst Ende der siebziger Jahre setzte sich Urs Odermatt nach Deutschland ab. Nun mußte der Vater ermitteln. Der Kontakt fror ein. Jahre später kam ein Brief, in dem Arnold Odermatt um einen Besuch in der Schweiz bat. Der Wunsch war nicht väterlich, sondern geschäftlich. Arnold Odermatt hatte mitbekommen, daß der Sohn in den Medien arbeitete, unter anderem als Praktikant beim ZDF, und erhoffte sich Rat, wie er seine Bilder außerhalb Nidwaldens zeigen könnte. Also kam der in der Schweiz gesuchte Sohn über die grüne Grenze für vierundzwanzig Stunden nach Stans, um sich anzuhören, daß der Vater Landschaftsphotographien ausstellen wolle. „Versuchen wir es mit den Karambolagen“, schlug Urs Odermatt vor. „Einzigartig“, nannte er sie. „Blöder Chabis“, Unsinn, entgegnete der Vater. Doch schließlich vertraute er ihm. Vater und Sohn verbindet nicht gerade überschwengliche Herzlichkeit, eher die Komplizenschaft zweier Künstler. Der Weltruhm kam mit Harald Szeemann. Der bekannte Kurator und Museumsleiter hatte Odermatts Photographien in einer Ausstellung im Frankfurter Polizeipräsidium entdeckt und wollte eine Auswahl an der Biennale Venedig 2001 zeigen. Urs Odermatt traf Szeemann im Flughafen Kloten am Gate und reichte ihm eine Mappe mit dreihundert Bildern zur Ansicht. Keine zehn Minuten hatte Szeemann Zeit, bis sein Flug aufgerufen wurde. Nie habe er einen Menschen schneller Entscheidungen treffen und gelbe Zettel auf zweiunddreißig Werke kleben sehen, erzählt Urs Odermatt.
Als ich Harald Szeemann im selben Jahr traf und fragte, was Odermatts Bilder für ihn so besonders machen, antwortete er: „Nur ein Polizist aus der wohlhabenden Schweiz kann das Unglück ästhetisieren und es sich leisten, auf das Zeigen des Blutzolls zu verzichten.“ Arnold Odermatts Bilder kennen keine Gewalt. Es gibt kein Blut, keine Tränen, obwohl es zu der Zeit, als sie entstanden, weder Kindersitz, Anschnallpflicht noch Airbags gab. Wer seinen Wagen in einen Brückenpfeiler rammte, flog durch die Scheibe in den sicheren Tod. Sein Vater habe so viele Tote „von der Straße gekratzt“, daß er kein Blut mehr zeigen wollte, erklärt Urs Odermatt die Reinheit der Bilder. Es fehlte damals nicht an Dramatik. Doch ist das Unheil in Odermatts Photos eher eine Ahnung, verbirgt sich in der Sachlichkeit von zerbeultem Blech. Auch war die Schweiz nie so heil, wie es die Photos vorgeben. Sie sind Abbilder eines Lands, in dem Frauen bis 1971 kein Wahlrecht hatten, Reformierte vielerorts als Ausländer galten und italienische Arbeitsmigranten bei der Einreise den Paß abgeben mußten. Bei Odermatt sieht das so aus: Ein Bild von 1965 zeigt eine Amtsstube in Stansstad mit grünrotbeigen Vorhängen in graphischen Mustern. Dort stempelt der Gefreite Paul Christen artig Pässe. Sie gehören italienischen Gastarbeitern. Zurück bekamen sie sie, wenn sie in der Schweiz die Steuern bezahlt hatten. Auch bei der Polizei und ihrem begabtesten Photographen kommt nicht immer die ganze Wahrheit ans Licht.
Gudrun Sachse
Das Auge des Gesetzes
Geo, Hamburg, 12/2019
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Am Lebensweg des Künstlers Arnold Odermatt ist so ziemlich alles ungewöhnlich. Aus dem ehemaligen Kantonspolizisten im schweizerischen Nidwalden, der Ende der vierziger Jahre seine Photographien vom Dienstalltag gegen das Mißtrauen von Kollegen und Vorgesetzten durchsetzen mußte, wurde ein weltberühmter Photograph, dessen Werke sich heute in vielen namhaften Sammlungen befinden. Seine Entdeckung erfolgte erst spät – drei Jahre nach seiner Pensionierung – und durch den eigenen Sohn. Beim Durchsehen der alten Negative auf dem Speicher wußte der Regisseur Urs Odermatt sofort: „Das ist ein großer Fund!“ Bereits die erste Buchveröffentlichung Meine Welt brachte 1993 den Durchbruch, zahlreiche Ausstellungen folgten. 2001 lud ihn Harald Szeemann auf die Biennale von Venedig ein. So avancierte Arnold Odermatt im Alter von über siebzig Jahren mit surrealen Schwarzweißfotos von Unfallorten und verbeulten Karosserien (Karambolage) zum Star einer Kunstszene, die gewöhnlich für ihren grassierenden Jugendwahn bekannt ist.
Ein ungläubiges Staunen ist Arnold Odermatt heute noch anzumerken: „Ich habe die Welt nicht mehr verstanden! Jahrelang hat sich niemand für meine Bilder interessiert und dann das.“ In Begleitung seines Sohns Urs Odermatt ist der 86jährige Künstler nach Berlin gekommen, um seine Ausstellung Heimat in der Galerie Buchmann zu eröffnen. Inmitten seiner Bilder strahlt der freundliche Herr im grauen Anzug die heitere Gelassenheit eines Menschen aus, der niemandem mehr etwas beweisen muß. Arnold Odermatt genießt seinen späten Ruhm, den er als Geschenk begreift. „Ich habe Glück, ich weiß das“, sagt der Photograph lächelnd. „Und ihm habe ich alles zu verdanken“, stellt er seinen Sohn Urs Odermatt vor, der das Werk seines Vaters nach und nach in verschiedenen Werkgruppen herausgibt.
Man kann sich kaum vorstellen, daß dieser zurückhaltende und feinsinnige Mann mit der leisen Stimme einmal als Polizist gearbeitet und mit seiner Rolleiflex die furchtbarsten Unfälle dokumentiert hat. Arnold Odermatt bestätigt: „Ich habe schon gemerkt, daß ich feinfühliger war als meine Kollegen, und wenn etwas Schlimmes passierte, besonders mit Kindern, konnte ich mit niemandem reden. Das Photographieren – das ja eine gewaltige Arbeit war, weil ich alles selbst einrichten mußte – hat mich davon abgelenkt.“ Um auszuhalten, was er sah, wenn er am Unfallort eintraf, mußte Odermatt das Gesehene bannen und sein eigenes Bild über das erste Bild des Schreckens legen. Aus diesen Privatphotographien, die Odermatt mit viel Geduld nach dem dienstlichen Bilddokument aufnahm, ist das Grauen bereits getilgt. Es sind aufgeräumte, meist menschenleere Orte, in denen der Photograph den verkeilten, zu Schrott gefahrenen Fahrzeugen eine skulpturale Schönheit verleiht. Wenn man Arnold Odermatt zuhört, begreift man, daß es hierbei auch um die Rettung der eigenen seelischen Unversehrtheit ging. Es sind Bilder, die heilen und befrieden sollten.
Der Wille zum Glauben, daß wieder alles gut werden kann, hat Arnold Odermatt durch ein langes Polizistenleben getragen. Es ist eine Haltung, die, gepaart mit einer spürbaren Liebe zur Natur und zu den Menschen, auch die Serie Heimat mit Bildern aus den fünfziger bis siebziger Jahren kennzeichnet. In kaum einem anderen Bild tritt dieser Blick auf die Welt so deutlich zutage wie in dem Photo, das Odermatt bei einem Nachteinsatz von einem Oberförster aufnahm. Erleichtert sitzt dieser im Auto und hält ein Reh im Arm, das er gerettet hat (Buochs, 1954). Das Blitzlichtphoto erinnert an Weegee, jenen anderen berühmten Tatortphotographen, dessen Zynismus Odermatt nicht teilt.
Die Schwarzweißphotos dieser „schweizerischsten“ seiner Serien dokumentieren auch eine Zeitenwende in Odermatts Heimatkanton Nidwalden – den Einzug der Moderne in die ländliche Region am Vierwaldstättersee. In prägnanten, sorgfältig komponierten Aufnahmen, die den Einfluß seines Vorbilds, des Magnum-Photographen Werner Bischof, verraten, fängt Odermatt Handwerk und lokales Brauchtum ein. Man sieht Hufschmiede, Falkner und Schuster bei der Arbeit und zwei Senner, die das Heu einbringen. Eine echte Geißenpeter-Idylle zeigt Odermatts eigenen Vater mit Tirolerhut, Pfeife und Wanderstock beim Bergwandern mit Enkel Urs (Wolfenschiessen, 1958).
Dem stehen ebenso viele Photos gegenüber, in denen der Chronist Odermatt in den sechziger Jahren den Bau der ersten Autobahn in der Schweiz dokumentierte, die mitten durch den vormals nur durch eine Zugbrücke erreichbaren Kanton führte. „Morgens kamen Horden von Touristen, die um fünf Uhr wieder wegfuhren, dauernd gab es Unfälle und Staus. Damals wollten wir die Autobahn, denn so konnte es nicht weitergehen!“, erinnert sich Arnold Odermatt. Sein Sohn Urs Odermatt ergänzt kritisch: „Nidwalden war eine Sackgasse, man mußte auf demselben Weg rausfahren, auf dem man reingekommen war. Die Autobahn hat aus einem Sackgassekanton einen Transitkanton gemacht, das war eine ungeheure Veränderung.“
Die Hängung macht diesen Umbruch mit pointierten Gegenüberstellungen sinnfällig. Mit feinem Bildwitz tritt eine schier endlose Blechlawine auf einer doppelstöckigen Autobahn (Hergiswil, 1982) in einen Dialog mit einem älteren Bild, das zeigt, wie eine Schafherde neben Bahngleisen hergetrieben wird (Wolfenschiessen, 1958). Solche leisen Kommentare Odermatts verweisen auf die Ambivalenz des zunächst freudig begrüßten Fortschritts. Ein anderes Bilderpaar zeigt, wie Odermatt den Einbruch einer Katastrophe in die beschauliche Bergwelt stillstellt. Auf dem linken Bild sieht man die Bergung eines in den Vierwaldstättersee abgestürzten Mirage-Kampfjets, der sich in dieser Umgebung vollkommen unwirklich ausnimmt (Buochs, 1969). Rechts daneben hängt die klassische Postkartenidylle eines Sonntagsausflugs. Frau Odermatt und Sohn Urs genießen die herrliche Aussicht auf die spiegelnde Oberfläche eben jenes Sees, aus dem gerade noch ein Jet gehievt wurde – eine Gegenüberstellung wie ein Filmschnitt, an der David Lynch seine helle Freude hätte.
Diese neuesten Bergungen aus dem scheinbar unerschöpflichen Bildarchiv von Arnold Odermatt machen große Lust auf mehr. Darf man sich nach den Publikationen Meine Welt, Karambolage, Im Dienst und In zivil etwa schon auf den nächsten Bildband freuen? Odermatts Sohn hält sich bedeckt. „Falls das Buch kommt, geht es wahrscheinlich in Richtung Nach Feierabend“, verrät der Herausgeber nur. Das läßt hoffen.
Jutta von Zitzewitz
Aus Nidwalden in die Welt
Galerie Buchmann, Berlin, 1. Juli 2011
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A minibus lies overturned, papers spilling in its wake. Battered vehicles commiserate at a deserted intersection. A Volkswagen Beetle sinks slowly into an otherwise pristine Alpine lake. These haunting images are the work of Arnold Odermatt, a retired Swiss policeman whose photographs of accident scenes, though possessed of almost surreal beauty and clarity, have only recently come to the attention of the international art world.
This spring, the Washington University Gallery of Art will present a rare U.S. exhibition of more than thirty black-and-white and color images by the now-septuagenarian wunderkind. Born in 1925 in the small Swiss town of Oberdorf, Odermatt originally trained as a baker and confectioner. In 1948, he joined the police force in Nidwalden, a remote, largely agrarian canton encompassing eleven small communities and, even today, fewer than 40’000 citizens.
At the time, „accidents constituted the main occupation of police work,“ said Sabine Eckmann, curator of the Gallery of Art. „About 600 cars crowded the underdeveloped roads, with an average of one car accident daily and about ten fatalities per year.“ Odermatt was the first officer in Switzerland to begin documenting these tragic scenes on film, creating two distinct bodies of work. Setting his tripod on the roof of a police van, he first shot a series of straightforward, documentary images to accompany accident reports and on-site police drawings. Hours later, when onlookers had gone and most traces of violence had been cleared away, he returned to make a final, more highly aestheticized portrait of the wrecked vehicles.
Devoid of blood or victims, presented in crisp black-and-white, these latter images stand in marked contrast both to earlier „crime photography“ – Weegee’s crowded tenement scenes of the 1930s and ’40s, for example – and to works by contemporary artists such as Andy Warhol, whose acidly colored „car crash“ paintings mimicked the garish sensationalism of tabloid scandal sheets.
Odermatt, by emphasizing the „object character of the car,“ uniquely engaged „problems of a belated modernization caused by the invasion of the automobile into an agrarian area,“ Eckmann explained. Yet, „rather than letting the shocks of modernity fragment his senses, Odermatt creates images of empathy and sensuality that seek to control yet, importantly, also admit the progress of modernization as it penetrated his locality.“
Odermatt’s color photos, begun later in his career, focus on the activities of local police – shooting exercises, parades and festivals, on the beach practicing CPR. „These photographs often served the function of promoting police work rather than documenting life in rural Switzerland,“ Eckmann said. „Yet while they are obviously staged, they don’t come across as formal or official. Caught in their time through design, fashion and equipment, they convey the particulars and arbitrariness of the everyday, its structures and its practices.“
Liam Otten
Washington University, St. Louis, 27. Februar 2003
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Ein klarer Sonntagmorgen war es. Über Nacht ist es kalt geworden. Zu sechst fuhren wir in die Berge. Vier Erwachsene und zwei kleine Kinder, alle in einem Fiat 1400. Ich war damals fünf Jahre alt. Ein leichtes Schlingern, Gegensteuer, das Aufprallen an einer Gartenmauer, dann hörte ich, wie jemand sagte: Alle mit Eisen an den Schuhen sollen dem Auto fernbleiben, Benzin laufe aus. Meine Schwester und ich lagen ganz unten, das Auto war umgekippt, stand mit der Seite nach oben. Später saßen wir zitternd in einer Bauernstube, pflegten die kleinen Verletzungen. Beulen, aufgebissene Lippen, später dann doch ein Jochbeinbruch, beim Vater, und ein Trauma bei der Mutter. Fussgänger wurden keine verletzt, der Gottesdienst hatte schon begonnen, der Gehsteig war leer. Gott sei Dank, wie es sinnigerweise hieß.
Es ist anzunehmen, daß dieser Selbstunfall – wegen Glatteises auf der Brücke – photographiert worden ist. Und zeitlich hätte es gut hinkommen können, daß der Polizist Arnold Odermatt mit seiner Rolleiflex sehr sorgfältig den Blick auf den seitlich gekippten Wagen und dann auf die mit Kreide nachgezogenen Bremsspuren – bis zur Gartenmauer und wieder zurück – gerichtet hätte. Geographisch hingegen kommt es nicht ganz hin. Unser Weg führte ins Skigebiet der Flumserberge, der Unfall geschah vor dem Kerenzerberg (vor der Walenseeautobahn) und nicht in der Innerschweiz, im Revier seines Kantons Nidwalden.
Doch der Unfall war typisch, auch wenn er recht glimpflich abgelaufen war. Das Auto war mit sechs Personen deutlich überladen. Damals wurden die Gesetze noch large gehandhabt und wahrgenommen. Arnold Odermatt sagt selbst: Innerorts wurde viel zu schnell gefahren, viele Leute waren betrunken. Doch wir hatten kaum Möglichkeiten, sie zur Rechenschaft zu ziehen: wir hatten lange Zeit nur Fahrräder und eine Taschenlampe. Die Statistik im Kanton Nidwalden spricht Bände: in den Jahren 1946, 1947 und 1948 gab es im Kanton Nidwalden sechshundert Motorfahrzeuge, Autos und Motorräder zusammengezählt. Und in diesen Jahren zählte man jedes Jahr neun Tote. Heute zählt man dreißigtausend Fahrzeuge in Nidwalden, nicht gerechnet die Autobahn und der mächtige Tourismusverkehr Richtung Berner Oberland, und zählt einen Toten pro Jahr.
Die geschichteten Leiber im Wagen, das mühselige, aber eilige Herauskraxeln, das zittrige Trinken aus einer Tasse, die Schweißausbrüche, all diese Momente des beschriebenen Unfalls vor fünfundvierzig Jahren, der Augenblicke danach, wären nicht auf dem Photo von Arnold Odermatt zu sehen gewesen. Diese Geschichten sind nicht seine Aufgabe, für diese Geschichten hatte er gar keine Zeit. Tauchte er an einem Unfallort auf, dann waren zuerst die Verletzten zu versorgen (Ambulanz gab es lange Zeit nicht, vorbeifahrende Autos wurden angehalten), schließlich der genaue Polizeirapport zu verfassen. Und hier ist Arnold Odermatt Pionier, daß auf seinen Vorstoß hin die Photographie als Dokument überhaupt erst eingeführt worden ist. Und erst wenn das alles vorüber war, begann die Zeit des sorgfältigen Photographierens. Odermatts Bilder sind auffallend sauber, aufgeräumt, bis auf das Tatfahrzeug. Er photographiert nach der Tat, manchmal eine Weile danach, wenn sich die Erzählung, auch der Schrecken verflüchtigt hat. Wenn die Situation es erlaubt, sich der entstandenen Konstellation wertfrei, bildhaft zu nähern.
Zwei Typen von Photographien prägen die Werkgruppe Karambolage: Landschaftsphotographien und photographierte Skulpturen. Da ist einmal die schweizerische Landschaft mit ihren Wiesen, Bäumen und Seen, die immer ein wenig sonntäglich wirkt. Sie wird in Odermatts Bildern unfreiwillig zu einer Bühne für Kuriosa. Eine ruhige, meist sanfte, leicht schläfrige Landschaft wird an einer Stelle punktiert – peng, zwei Fahrzeuge ineinander verkeilt – oder überzogen von einem merkwürdigen Kratzer mit Endpunkt, einer Bremsspur und an ihrem Ende ein Auto, aufgeprallt an einem Baum, einer Wand, die Abschrankung durchtrennt, um einen Pfahl geschleudert und aufgetrennt, halb im See gelandet. Unversehrte Idylle wird aufgescheucht, als würde jemand mit Niedertracht Farbe in ein fertiges Gemälde schmieren oder mit Lachen eine Comixfigur plazieren. Eine Unfallstelle mitten in der Ordnung. Ein Unfall der Ordnung, gesäubert und bereits wieder „soweit“ geordnet.
Der zweite Typus zieht den Blickradius weit enger, fokussiert auf das Auto, ist skulptural: Nahaufnahmen von ineinander verkeilten Wagen, von aufgeschlitzten Kotflügeln, aufgerissenen Kühlerhauben, zerdepperten Scheiben. Das Volumen türmt sich vor uns auf, die äußere Haut aufgefaltet, und formuliert ungewollt das Aufeinanderprallen von intakter und gequetschter, von geschlossener und offener Form. Eine Art von „unvoluntary sculptures“ entstehen durch die nüchtern, sachlich und präzis aufgenommenen Photographien.
„Die Wahrheit der Kunst liegt in der Durchbrechung des Realitätsmonopols, wie es in der bestehenden Gesellschaft ausgeübt wird. In der ästhetischen Formgebung, die in diesem Bruch entspringt, erscheint die fiktive Welt der Kunst als die wahre Wirklichkeit“, schreibt Herbert Marcuse im Zeitraum, in dem viele der Odermatt-Photos entstanden sind. Mit ein wenig Augenzwinkern kann man dieses Zitat den form- und bildbewußten Odermatt-Photos unterlegen. Der Unfall entfunktionalisiert das Fahrzeug, verwandelt es schlagartig in eine Fiktion, in einen Dinosaurier der Jetztzeit. Unfallsurrealismus im Alltag. Und bei aller Heftigkeit des Aufprallens, der Zerstörung dominiert nach der Tat die Komik über der Tragik. (...)
Urs Stahel
Fotomuseum Winterthur, 29. Mai 2004
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(...) Odermatt’s own black-and-white style is characterized by sobriety and authenticity; maximum impact by the most economical of means. This photographic series, known as Karambolage, shows the consequences of excessive speed, intoxication and lost concentration in the austere visual language of a police report.
There are no victims in these photos; just bizarre sculptures of scrap metal. The time elapsed between any injured being removed and Odermatt clicking the shutter has a restorative effect. Despite the melancholy, there is also dry humour here: How did that happen? How on earth did the car end up there?
Adam Hay-Nicholls
Smoke and Mirrors – Cars, Photography and Dreams of the Open Road
Hoxton Mini Press / Penguin Books, London 2020
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Es ist ein regnerischer Abend an diesem 2. August 1961, als bei der Nidwaldner Kantonspolizei die Meldung eingeht, es sei ein Bus in den See gestürzt. Für den jungen Polizeirekruten Walter Zumbühl ist sofort klar, daß sich hier zwischen Stansstad und Hergiswil ein Verkehrsunfall bisher unvorstellbaren Ausmaßes ereignet hat. Über beinahe zwanzig Meter Länge ist das Eisengeländer am Ufer weggerissen. Auf der schmalen Straße steht ein beschädigter Lastwagen mit Anhänger. Vom anderen Unfallfahrzeug ist nichts zu sehen, da es in den Fluten des Vierwaldstättersees versunken ist.
Es handelt sich um einen Autobus, der eine Gruppe amerikanischer Touristen von Montreux nach Luzern bringen sollte. Kurz bevor sie ihr Tagesziel erreichen, kommt es zur fatalen Kollision auf der engen Straße am Lopper. Achtunddreißig Personen sitzen im Car. Neben fünfunddreißig älteren Lehrern aus den Vereinigten Staaten sind es der Schweizer Reiseleiter mit seiner Frau sowie der italienische Chauffeur.
Diese Begleitpersonen können sich retten und helfen einigen Passagieren, die es dank ihrer Unterstützung schaffen, an Land zu schwimmen. Auch einige Einheimische, darunter Polizist Sepp Meier, der von seiner Wohnung aus den Unfall gesehen hat, packen tatkräftig an. Insgesamt können zweiundzwanzig Personen aus dem Wrack gerettet werden, das noch eine Weile an der Wasseroberfläche schwimmt.
Der Reiseleiter, dessen Dogge sich ebenfalls schwimmend retten kann, berichtet in der NZZ, „beim Aufschlagen auf dem Wasser“ habe „im Autobus unbeschreiblich Panik geherrscht“. Sechzehn Businsassen können sich nicht befreien und werden in den Tod gerissen. Es handelt sich um den schwersten Verkehrsunfall, der sich bis zum damaligen Zeitpunkt auf Schweizer Straßen ereignet hat. Die meisten der Toten sind nicht an den Folgen des Zusammenstoßes gestorben, sondern ertrunken, wie der Amtsarzt später feststellt. Nicht zuletzt als Folge der Katastrophe am Lopper werden in der Folge Busse mit kleinen Hämmern ausgerüstet. Damit können in kritischen Situationen die Fenster zerschlagen werden.
Rasch macht die Meldung vom tragischen Unglück Schlagzeilen rund um die ganze Welt. Besonders groß sind der Schock und die Trauer natürlich in den USA. Der amerikanische Botschafter in Bern, Robert McKinney, eilt am 3. August nach Stans, wo er den Überlebenden im Kantonsspital Nidwalden einen Besuch abstattet. Der Nidwaldner Regierungsrat bringt in einem Kondolenzschreiben an die amerikanische Botschaft sein herzlichstes Beileid zum Ausdruck. Die Pressekonferenz im Restaurant Adler in Hergiswil wird vom damaligen Leiter der Verkehrspolizei, Arnold Odermatt, organisiert. Er ist auch für die photographische Dokumentation der Katastrophe verantwortlich. Es sind solche Unfallbilder, die Jahrzehnte später zu Kunstwerken werden und in renommierten Galerien rund um die Welt gezeigt werden.
Zu schaffen machen der Polizei in den Tagen nach dem Unglück die zahlreichen lästigen Gaffer, die die Unfallstelle umlagern. Die Bergung des großen Busses, der in einundfünfzig Metern Tiefe auf dem steil abfallenden Seeufer liegt, stellt sich als schwierige Aufgabe heraus. Es braucht mehrere Anläufe und umfangreiche Vorbereitungsarbeiten, bis das Fahrzeug am 5. August frühmorgens schließlich mit Hilfe eines Nauens gehoben werden kann. „Die Polizei beabsichtigte mit diesem frühen Beginn, den Akt der Leichenbergung den neugierigen Blicken des Publikums zu entziehen“, hält der NZZ-Korrespondent vor Ort fest. Elf Leichen können schließlich geborgen werden, fünf Opfer gibt der See nicht mehr her.
Bereits am Tag des Unglücks beginnt in den Medien eine hitzige Diskussion, wer die fatale Kollision verschuldet habe. Die schmale Straße unmittelbar am Seeufer ist seit vielen Jahren als Unfallschwerpunkt gefürchtet. „In gewissen Abständen kamen hier immer wieder Autos von der kleingepflasterten Straße ab, durchschlugen die massive Abschrankung, als ob sie ein Strohgeflecht wäre, und stürzten in den See.“
Über die Frage, welcher Fahrer der beiden Unfallfahrzeuge für die Katastrophe verantwortlich sei, muß im Januar 1965 sogar das Bundesgericht entscheiden. Wertvolle Dienste bei der Klärung der Schuldfrage leistet ein fast 70seitiges Gutachten des ETH-Ingenieurs Max Troesch. Im Rahmen der Abklärungen wird eine Rekonstruktionsfahrt mit den beiden Unfallfahrzeugen durchgeführt. Dem italienischen Fahrer des Reisecars wird angekreidet, daß er vor dem Zusammenprall ein Velosolex überholt habe. Der aus Nidwalden stammende Chauffeur des Saurer-Lastwagens habe das Bremsventil falsch eingestellt, was dazu führte, daß der Anhänger ins Schlingern geriet.
Das oberste Gericht des Landes spricht schließlich den italienischen Chauffeur des Reisecars frei. Anders hat dies das Nidwaldner Kantonsgericht beurteilt, das den Fall im Juli 1964 unter Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelt. Es spricht beide Chauffeure wegen fahrlässiger Tötung, fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs und Übertretung des Motorfahrzeuggesetzes schuldig. Dies bei einem Strafmaß von einem Monat Gefängnis, bedingt erlassen bei einer Probezeit von zwei Jahren und einer Busse von je dreihundert Franken.
Erich Aschwanden
Ein Busunglück schockiert zwei Länder
Neue Zürcher Zeitung, 2. August 2016
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Der Dadaismus des Blechschadens
Arnold Odermatt wurde 1925 im Schweizer Kanton Nidwalden geboren und arbeitete zeit seines Berufslebens als Verkehrspolizist. Die seiner Profession zugehörige Aufgabe der Dokumentation von Unfällen nahm Odermatt allerdings so ernst, daß seine Bilder 2001 auf der Biennale in Venedig ausgestellt wurden. Seitdem diskutiert die Kunstwelt von Winterthur bis Chicago, wie es sein könne, daß ein Polizist in der Ausübung seines Amts Kunst schaffe, obwohl er dies – nach eigener Aussage – gar nicht beabsichtigt habe.
Die Kunsthalle am Erfurter Fischmarkt zeigt mit hundertachtzig Photographien eine umfangreiche Ausstellung von Arnold Odermatts photographischem Werk, das neben den Karambolagen – den Verkehrsunfällen auf den Straßen des Kantons – auch Szenen des privaten Lebens, des Polizeidiensts und schöne Landschaftsphotographie umfaßt. Die Unfallphotos jedoch stechen auf eine ganz besondere Weise heraus aus diesem Lebenswerk.
Odermatt war, darin ganz Schweizer und Polizist, äußerst gewissenhaft und sorgfältig. Das Photographieren hatte er sich selbst beigebracht, dies mit dem unerschütterlichen Anspruch, fachlich saubere Arbeit abzuliefern: gestochen scharf, auf das Wesentliche fokussiert und gut gestaltet in Sachen Ausschnitt, Blickwinkel, Brennweite, Hintergrund und Details. Das beherrschte er so gut, daß diese analog erzeugten Bilder in ihrer Mischung aus Wohlkomponiertheit und versteckter Ironie bis heute faszinieren.
Der Photograph Arnold Odermatt, das spürt man sofort, überläßt nichts dem Zufall. Jedes Detail seiner Bilder ist inszeniert und arrangiert; Zufall oder Spontaneität haben hier wenig zu sagen, Kontrolle ist alles. Hier unterscheidet er sich fundamental von seinem Schweizer Zeitgenossen Robert Frank, der mit seiner berühmten photographischen Reportage The Americans im Flüchtigen das Typische suchte, und der als Photograph am liebsten unsichtbar gewesen wäre. Arnold Odermatt aber photographierte, wie Schweizer Bürokraten Akten anlegen: als Perfektionist.
Die spannende Frage lautet: Wie geht ein Photograph, der so arbeitet, mit der Thematik Verkehrsunfall um, die sich dieser Haltung diametral versperrt? Denn hier herrschen Chaos, Katastrophe und Unberechenbarkeit, und es plant nur einer: der Zufall.
Die Antwort lautet als erstes: Odermatt räumt auf.
Die Karambolagen sind Photographien aus den fünfziger bis achtziger Jahren. Sie zeigen Autos, die noch keine versteifte Fahrgastzelle und keinen Airbag kannten, und oft nicht einmal einen Sicherheitsgurt. Die auf den Photographien sichtbare Zerstörung gibt Gewißheit, daß hier, vor der Belichtung, Schwerverletzte und Tote aus dem Auto gezogen oder dem Blech geschnitten wurden.
Davon aber, von den Opfern, sieht man bei Odermatt nichts. Auch Spuren der Verletzten, sei es Blut oder Persönliches, finden sich nicht, ebenso wenig Sanitäter oder Ärzte. Die einzigen Menschen, die der Photograph mit seinen Unfallbildern – wenn überhaupt – abbildet, sind Schaulustige am Straßenrand. Unbeteiligte. Zuschauer eines Spektakels.
Die unmittelbar in den Unfall Verwickelten, Emotionen wie Verzweiflung oder Schmerz will Odermatt nicht auf seinen Photos haben. Ihn interessiert das Wrack als Resultat eines Vorgangs, der durch diese Landschaft bewirkt wurde und der in ihr einschneidende Spuren hinterlassen hat. Seine Photos wirken, als ergänzten die von ihm vorgefundenen zerstörten Autos diese Landschaft wie die Open-Air-Installation eines zeitgenössischen Künstlers.
Der Photograph besteht darauf, daß seine Unfälle Teil der Landschaft sind, in der sie stattfinden. Er komponiert seine Bilder so, daß sie erscheinen, als sei nichts mehr dem Zufall geschuldet. Entscheidend dafür ist vor allem die Perspektive, die er wählt. Der Polizist und Schweizer Odermatt bezwingt das Chaos durch die Perfektion seiner Photographie. Entfernte man die Wracks aus dieser Landschaft, so beseitigte man nicht etwa Störendes. Man zerstörte eine einmalige Odermattsche Inszenierung.
Neben der formalen Perfektion der Photographien ist es diese fast dadaistisch anmutende, trockene Abgeklärtheit, mit der Odermatt es zielsicher schafft, Verkehrsunfälle auf Schweizer Straßen mit all ihrer Brutalität so zu photographieren, als seien sie gestaltet. Er inszeniert Unfälle als Kunstwerk. Seine Photographie erscheint als unbeteiligte Beobachtung einer kunstvollen Szenerie, die in Wirklichkeit erst durch diese Photographie entsteht. Das ist nicht nur Kunst, das ist genial.
Dazu paßt, daß Arnold Odermatt selbst stets beteuerte, er habe keine Kunst, sondern immer nur „gute Photographie“ machen wollen. Das mag schon sein. Durch die Komposition seiner Belichtungen jedoch gelang es ihm, seinen Bildern multiple Bedeutungsebenen einzuschreiben, die den Blick des Betrachters halten – und ihn nach Gründen suchen lassen, warum. So funktioniert Kunst.
Denn was Kunst ist, entscheidet sich nicht daran, was der Künstler über sich denkt, auch nicht darüber, was der Kunstmarkt von einem Künstler hält. Es entscheidet sich allein an der Kraft eines Bilds, uns eine Welt vorstellig zu machen, die mehr ist als das, was wir sehen.
Vielleicht hat Arnold Odermatt nicht für den Kunstmarkt photographiert, aber er war ein Photograph, der genau wußte, was er tat. Der abgeklärte und ironische Sarkasmus jener Schweizer, die 1916 in Zürich den Dadaismus ausgerufen hatten als Antwort auf Krieg und Zerstörung, er muß auch ihm im Nacken gesessen sein.
Dr. Jan Kobel
Die große Retrospektive des Photographen Arnold Odermatt in der Kunsthalle Erfurt
stadtrandnotiz.de, Arnstadt, 16. Februar 2020
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Sich kopfvoran stürzen, mit den Händen das Gewicht auffangen, den Stand finden und bewahren: Ein Zeugnis von Übermut und Waghalsigkeit – man könnte sich den Hals brechen. Der Handstand: Der bebrillte Herr, dessen Seiten der Uniformjacke sich wie Flügel nach unten legen, steht mit beiden Händen sicher auf der Straße, nur wenige Meter vom Zebrastreifen entfernt. Im Hintergrund einige Gebäude, Berge, Verkehrsschilder, eine Ampel und elegante Strommasten, deren Kabel sich wie eine Zeichnung über den Himmel legen.
Die Aufnahme des Polizisten aus dem Jahr 1973 entstand an einem besonderen Tag: Zu Fuß oder mit dem Fahrrad sollte man sich bewegen, Straßen und Autobahn erkunden und spazierend über das Sparen von Bodenenergie sinnieren. Die autofreien Sonntage fanden während der ersten Ölkrise statt und sorgten für einige Aufregung im Dorf. Der Polizist im Handstand bildet den Auftakt zu Das Dorf als Welt, der Ausstellung von Arnold Odermatt. Der Ort, in dem wir leben, beeinflußt nicht nur unseren Alltag, er wird im positiven wie negativen Sinn zur eigenen Welt mit eigener Gesetzmäßigkeit, Möglichkeit und Beschränkung. Das Dorf als soziales Gebilde und geographischer Ort wird zum Schauplatz und funktioniert als Denkmodell. Arnold Odermatt hat diese seine Umgebung eingefangen. Das Bild des kopfüber stehenden Polizisten überzeugt, neben dem komponierten Ausschnitt und der technischen Umsetzung, durch den Transfer einer einzigartigen Aktion und seinen feinen Witz.
Betrachten wir Arnold Odermatts Photographien, sehen wir Lichtbilder, die von meisterhaftem Können zeugen: Der Bildausschnitt ist präzise gewählt und perfekt umgesetzt. Auch wenn Arnold Odermatt nicht die Absicht hatte, ein Kunstwerk zu schaffen und kein Konzept verfolgte, wird trotzdem klar, daß seine Herangehensweise von seinem Gespür für Form, Licht und Dunkel geprägt ist. Die künstlerische Absicht folgte keinem Entschluß – vielleicht fallen deshalb in der Beschreibung der Qualität der Photographien Attribute wie instinktiv, unverbraucht oder authentisch. Arnold Odermatt bildete sich als Autodidakt weiter und photographierte während fünfzig Jahren: Die Landschaft seiner Umgebung, sein Arbeitsumfeld und das Leben zu Hause. Zu Beginn der neunziger Jahre entdeckte sein Sohn, der Regisseur Urs Odermatt, während der Recherchen zum Film Wachtmeister Zumbühl diesen Bilderberg und verwendete einen Teil der Photographien. 1993 erschien das Buch Meine Welt, Photographien 1939 – 1993 im Benteli Verlag: Urs Odermatt hatte die Bilder ausgewählt und wirkte als Herausgeber. Seinem Blick ist es zu verdanken, daß Arnold Odermatts Photographien einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wurden. Besucher in Deutschland, Frankreich, den USA und vielen anderen Ländern kamen in den Genuß, die Bilder des ehemaligen Polizisten Odermatt aus Stans „hinter den sieben Bergen“ im musealen Kontext kennenzulernen. Die Veröffentlichung der Bildbände Im Dienst, In zivil sowie Karambolage – alle in mehreren Auflagen – beim in der Photographie als Instanz geltenden Verlag Steidl trägt zur Verbreitung rund um den Globus bei.
Die Frage, was einen Künstler ausmacht, wurde oft gestellt und scheint in den meisten Fällen wenig interessant. Trotzdem habe ich mir im Laufe der letzten Jahre drei überzeugende Eigenschaften und einen Außenfaktor notiert. Die Gleichung sieht folgendermaßen aus: Ein gutes Auge, ein wacher Kopf sowie ein langer Atem. Und Glück. Letzteres trägt dazu bei, wie erfolgreich jemand sein Leben mit seiner künstlerischen Arbeit bestreiten kann. Nachfolgend werde ich die Geschichte von Arnold Odermatts Karriere auf dem Parkett der Kunst, die späte Entdeckung und Würdigung seiner Photographien nicht weiter ausführen. Dies wurde in der Tages- und Fachpresse ausführlich besprochen. Die Faszination für Arnold Odermatts Werdegang, den man als ungewöhnlich oder atypisch beschreiben kann, wird in den folgenden Jahren wohl zu Gunsten einer weiterführenden Bildbetrachtung in den Hintergrund geraten.
Arnold Odermatt spricht oft davon, für sein Tagebuch photographiert zu haben. Nicht nur die Aufnahmen aus dem privaten Umfeld zeugen von diesem Einfangen der Zeit. Oft entstand nach der Arbeit ein zweites Bild für sein Tagebuch: Zu einem späteren Zeitpunkt, wenn der berufliche Einsatz vorbei war und das photographische Dokument zur Beweisführung im Kasten, stieg Polizist Odermatt bepackt mit Stativ, Kamera und zusätzlicher Lichtquelle an den Ort des Geschehens zurück. In der Literaturwissenschaft gilt das geschriebene Tagebuch als Medium der Selbstreflexion und zeichnet sich aus durch Subjektivität. Schilderungen von Beobachtungen, die Bewertung von Ereignissen und Gedanken markieren den Lebensalltag zwischen Herausforderung und Entscheidungsfindung. Stilistisch zeichnen sich Tagebuchtexte durch die fragmentierte, von Unterbrüchen geprägte Form aus. Ein weiterer Aspekt, der ein Tagebuch definiert und – besonders ein photographisches Tagebuch – neben der bruchstückhaften Form interessant macht, ist die Farbe der kulturellen Prägung: Das Vorhandene prägt die Sprache des Texts und, im Falle von Arnold Odermatt, jene der Bilder. Der Stil – Kleidung und Haltung der photographierten Personen können als Ausdruck einer Epoche gedeutet werden – verrät viel über den Autor und wird durch die narrative Realität zum Gedächtnismedium.
Ein sauberer Tisch, auf dem man die Fingerspuren der Kinder, die vor einer Flasche Pepsi-Cola sitzen, erahnen kann. Es ist Frühling oder Herbst, zu kalt für kurze Ärmel, das Mädchen trägt eine Wolljacke. Der Junge rechts sieht das jüngere Mädchen von der Seite an. Wer trank den letzten Tropfen des sprudelnd-süßen Erfrischungsgetränks, das es nur zu Sonn- und Festtagen gab? Die Pepsi-Cola-Flasche ist aus Glas und im Konturdesign, das bis 1973 ohne Papieretikett im Handel war.
Die Aufnahme trägt den Titel Stansstad, 1964. Die beiden Kinder sind die Geschwister Doris und Urs, damals vier und neun Jahre alt. Unzählige Photographien von Ausflügen, Familienzusammenkünften und Einschulungstagen werden in Alben geklebt und aufbewahrt. Obschon die Betrachtung von Familienbildern, ungeachtet aus welchem Bestand, den Besucher in einen Zustand der Erinnerung und der Nostalgie versetzt, sind die Aufnahmen austauschbar. Nur im emotionalen Bezug, der den Betrachter mit den Abgebildeten verknüpft, entsteht ein erweiterter Bedeutungsraum. Mit den Aufnahmen von Arnold Odermatt verhält es sich anders: Das photographische Einfangen seiner Lebensumgebung geht über die persönliche „Verbandelung“ hinaus, sie funktioniert als Zeitzeugnis. Er bittet den Besucher als Chronist an den Tisch und ermöglicht eine Reise durch mehrere Jahrzehnte. Das photographische Tagebuch von Arnold Odermatt zeichnet sich durch seinen Umfang aus, andererseits durch die ausgedehnte Zeitspanne, in der die Bilder entstanden. Begrenzte ökonomische Mittel, nicht mangelndes Interesse oder Verständnis, waren der Grund, der die Leidenschaft des Photographen in Bezug auf Quantität einschränkte. Eine weitere Beschränkung legte sich Arnold Odermatt selbst auf: Er hatte eine Vorstellung davon, wie ein Bild aussehen soll. Die Vorstellung, welchen Moment er einfangen möchte, beschreibt der britische Photograph Paul Graham in einem Vortrag am Museum of Modern Art in New York mit den Eigenheiten „photographischer Kreativität“: „Vielleicht können wir uns darauf einigen, daß Künstler, getrieben durch die Macht der Vision, die Schwelle des Jetzts zu durchdringen, genau in diesem Moment eine Essenz des Lebens erkannt haben.“ Er beschreibt diesen Vorgang weiter als die Definition jenes Moments, der es schafft, uns in der Zeit vorwärts zu bringen. Nur durch diese Klarheit, die die Perspektive des Rückblicks in sich trägt, kann der Betrachter eine Idee jener Emotionen erhalten, die in diesem einzigen Moment die Wahrnehmung und Empfindungen des Photographen ausmachten. Paul Graham, dessen Photoreportage Beyond Caring aus dem Jahr 1986 die melancholische Atmosphäre britischer Arbeitsämter dokumentierte, findet ein weiteres treffendes Bild für dieses Vorstellung: „das Messen und Falten des Kleids der Zeit“.
Die junge Frau, gekleidet in eine weiße Bluse und einen dunklen Pullunder, blickt mit müden Augen an der Kamera vorbei. Das Portrait wurde frontal aufgenommen, der Bildhintergrund verrät nichts über den Ort, die Szenerie ist nicht ausschlaggebend. Die feinen Linien in den Augenwinkeln zeugen von häufigem Lachen, oder sie deuten auf lange Nächte, strenge Tage hin. Die Frau wartete geduldig, bis der Photograph den Auslöser drückte. Die Minuten, die zwischen ausharrender Langweile und angespanntem Abwarten wechseln – an sie erinnert sich jeder, der schon einmal photographiert wurde.
Stans, 1960 ist eines der vielen Portraits, die Arnold Odermatt von seiner Frau Dorly im Laufe des gemeinsamen Lebens machte. Photographien halten das Abwesende gegenwärtig. Wenngleich die Photographie die Existenz der abgebildeten Person unzweifelhaft belegt, bleibt sie doch historisch. Der französischer Philosoph Roland Barthes schrieb in seinem Standardwerk Die helle Kammer den Begriff des „abgeriebenen Bilds“, die Photographie als Medium, als alternative Form der Halluzination: Etwas, das nicht da ist, mit Sicherheit aber einmal da war. Nostalgie als Kategorie greift zu kurz und ist banal. Untersucht man den Vorgang, den die Betrachtung nahestehender Personen vollzieht, öffnet sich die Erinnerung, die sprichwörtliche Rückkehr des Gewesenen. Erinnerungsbilder sind kein objektives Abbild vergangener Wahrnehmung oder Abbild einer vergangenen Realität – sie sind subjektive, selektive und von der Abrufsituation abhängige Rekonstruktionen. Die Erinnerung ist eine im Jetzt stattfindende Operation des Zusammenstellens verfügbarer Daten. Das Festhalten von Familienmitgliedern oder das Konservieren der Gegenwart, die automatisch unumkehrbar zur Vergangenheit wird, vergegenwärtigt gleichzeitig die radikale Zeitlichkeit des menschlichen Lebens, wie Susan Sontag beschreibt.
Das Festhalten von Momenten hat sich sehr verändert: Hing die Zahl der Bilder früher von ökonomischen und technischen Parametern ab, kann heute jeder eine unüberschaubare Masse an Photos schießen. 2012 schätzten Marktforscher den Absatz von Digitalkameras auf 143 Millionen Stück. Weltweit sind ungefähr 4,4 Milliarden Aufnahmegeräte – samt Handys, Smartphones und Camcordern – in Gebrauch. Der Photograph, Verleger und Gestalter Ernst Scheidegger erwiderte auf die Frage, was sich mit der digitalen Photographie verändert habe, er habe aufgehört zu photographieren. Er vergleicht den Vorgang gestern und heute in klaren Worten: „Früher haben wir hingesehen und zwei Aufnahmen gemacht. Heute machen alle dreißig, hundert Bilder und suchen später eines aus. Das ist eine andere Art zu photographieren.“ Der Akt des Photographierens, das Einrichten und Abwarten, bis das Licht stimmt, schließlich das Geräusch, wenn der Auslöser klickt – eine Abfolge präziser Schritte, vom Warten auf die Entwicklung des Negativs begleitet. Ernst Scheidegger findet, daß sich die Fähigkeit, genau hinzusehen, verändert habe. Photographie ist als technisches Medium reproduzierbar; eine große Leistung der Photographie ist, daß sie einen unteilbaren Moment teilbar macht. Wir sind Zeugen, ohne das Primat der Gleichzeitigkeit: Es macht Spaß, die Polizisten früher im Einsatz zu sehen. Die zu Werbezwecken gefertigten Photos – dem Nidwaldner Polizeikorps fehlte der Nachwuchs – muten in ihrer Ernsthaftigkeit mit heutigem Blick skurril an. Die malerische Landschaft der Innerschweiz verspricht, was sich jeder Tourist wünscht. Nicht immer sind diese Landschaften menschenleer, frei vom Krempel der Zivilisation. Umgeworfene Autos, Fahrzeuge, die aussehen, als hätte ein Riese sie um den Strommast drapiert, stehen als skulpturale Objekte im Licht der Dämmerung. Nüchtern, sachlich, genau. Die Bilder seiner Familie unterscheiden sich nicht in ihrer formalen Qualität, sie erzählen fragmentarisch individuelle Geschichten, die der Autor und seine Sorgfalt bestimmt. Arnold Odermatt hat fünfzig Jahre die Falten des Kleids der Zeit vermessen und gefaltet.
Nadine Wietlisbach
Kopfvoran in Stans – ein Essay zu den Photographien von Arnold Odermatt
Das Dorf als Welt, Nidwaldner Museum, Stans, 12. September 2013 – 15. Dezember 2013
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Lieber Noldi,
auf Ende des laufenden Monats gehst Du in die wohlverdiente Pension. Persönlich hatte ich (vor allem früher, vor etwa dreizehn Jahren) recht häufig persönlichen Kontakt mit Dir. Ich sage Dir sehr gerne, daß diese Kontakte immer sehr angenehm und kollegial waren. Du hast eine großartige Karriere hinter Dir, denn Du hast Dich vom Polizeisoldaten hinaufgearbeitet bis zum Abteilungsleiter, Offizier und Kommandantstellvertreter.
Wahrscheinlich ist auch Dir nicht immer alles gelungen. Vermutlich hast auch Du (wie ich) Deine Momente gehabt, wo Du am liebsten alles hingeworfen hättest – aber Du hast es nicht getan (ich auch nicht). Du hast durchgehalten, auch wenn es nicht immer leicht war. Ich gratuliere Dir sehr herzlich zum Erreichten, und ich entbiete Dir meine allerbesten, persönlichen Glückwünsche zum wohlverdienten Ruhestand, vor allem gute und angenehme Gesundheit.
Mit kameradschaftlichen, freundlichen Grüßen, auch an Deine ganze Familie
Kurt Fehlmann, Kommandant
Stadtpolizei Luzern, 29. Mail 1990
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Die Gründe für den unerwarteten und ungeplanten Erfolg der Kleinstadtdramen von Arnold Odermatt sind vielfältig. Zum einen faszinieren die Aufnahmen durch die handwerkliche Präzision, mit der Odermatt den Unfallort festhält: „Ein gutes Photo ist scharf, man muß alles sehen, was man möchte“, sagt Odermatt. In der Nacht helfen Kollegen, leuchten den Unfallort – einem Filmset gleich – durch den Blitz einer Magnesiumpatrone für dreizehn Sekunden taghell aus. In diesen Sekunden entsteht nur ein Photo. Auch am Tag beschränkt sich der Photograph auf diese eine Aufnahme: ein Unfall, ein Bild, das Konzentrat alles Geschehenen.
In ihrer Ästhetik widersprechen die Aufnahmen allen Erwartungen, in Odermatts Bildern fehlt das mit einem Verkehrsunfall assoziierte Chaos. Blut, Verletzte oder Tote wird der Betrachter nicht finden. Alles wirkt aufgeräumt und bereinigt. Es gelingt dem Polizeiphotographen, sich auf dem schmalen Grad zwischen Belustigung und Entsetzen zu bewegen, seine Photographien sind gleichermaßen komisch und todernst. Komisch sind die bizarren Skulpturen des verformten Blechs, todernst werden sie, sobald wir uns die Frage nach den Insassen stellen. Auch die nostalgische Komponente der Aufnahmen trägt zu der bisweilen sicherlich unfreiwilligen Komik bei. Viele der Photos repräsentieren die fünfziger Jahre und stehen für eine Zeit ohne Tempolimit, ohne Radarfallen und ohne Gurtpflicht. Autos fahren auf Kantonstraßen, da es noch keine Autobahnen gibt – ein Verkehrsunfall konnte eine geordnete Kleinstadtidylle massiv stören.
Odermatt läßt – durch das Fehlen der Unfallopfer – die Fahrzeuge zu Protagonisten seiner Aufnahmen werden. Die Karosserien gewinnen durch ihre unfallbedingten Metamorphosen eine neue Ästhetik, ihr skulpturaler Aspekt tritt in den Vordergrund. Die Bewegung und Schnelligkeit symbolisierenden Fahrzeuge stehen in seinen Photos für das Gegenteil: Die Zeit scheint arretiert, die Automobile erleben eine entzeitlichte Monumentalisierung. Die Aufnahmen wirken wie Standbilder eines Films, der sich im Kopf des Betrachters unweigerlich in Gang setzt. Der Unfallhergang wird geistig komplettiert, mögliche Antworten auf die Frage nach der Unfallursache und dem Verbleib der Opfer gegeben. Unterstützt wird der Eindruck des Filmischen durch die dramaturgische Inszenierung der Landschaft mit ihren nebelverhangenen Bergpanorama und den dramatischen Wolkenformationen. In seiner Funktion als Zuschauer bindet Odermatt nur in wenigen Aufnahmen den Menschen mit ein. Wir sehen Schaulustige, die sich – wie im Kinosaal – in Reihen formiert haben, um eine gute Sicht auf die Polizeiarbeit zu haben. Eine andere Photographie zeigt Dorfkinder, die das Unfallergebnis mit neugierigem und zugleich distanziertem Blick beobachten, die Arme vor der Brust verschränkt. Doch meist sind wir die einzigen Betrachter des Unfallergebnisses – unser Blick fällt von einem oft erhöhten, stets exklusiven Standpunkt auf die menschenleere Szenerie.
Harriet Zilch
Multiple Räume (3): Film – Ist und Als-ob in der Kunst
Staatliche Kunsthalle Baden-Baden
Verlag für moderne Kunst, Nürnberg 2005
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Au début des années 1990, Urs Odermatt, metteur en scène pour le cinéma, le théâtre et la télévision, mène des recherches pour son prochain film Brigadier Zumbühl dont le cadre n’est autre que le canton suisse de Nidwald où il a grandi. Bien qu’au fait de la pratique photographique de son père – Arnold Odermatt, un policier à la retraite – il „découvre“ un ensemble de prises de vues datant de ses années de service. II entreprend de les publier dans différents recueils et organise en 1998 une exposition à l’hôtel de police de Francfort. Les photographies retiennent l’attention du commissaire d’exposition international Harald Szeemann qui les présente à son tour au sein de la Biennale de Venise en 2001. S’il contribue à les inscrire sur la carte de l’art contemporain, Harald Szeemann décrit leur auteur comme un „homme-œil“, accréditant la thèse selon laquelle il n’aurait jamais conceptualisé sa démarche – artistique malgré lui. Tout porte à croire que la région rurale et montagneuse dont est originaire Arnold Odermatt – le lac des Quatre Cantons – concourt à alimenter le fantasme d’un artiste isolé et „naïf“ parfois surnommé, à l’instar de Jacques-Henri Lartigue ou de Miroslav Tichý, „le facteur Cheval de la photographie“.
Né en 1925 à Oberdorf, Arnold Odermatt est issu d’une fratrie de onze enfants. À dix ans, lors d’un concours, il gagne un appareil photo avec lequel il développe progressivement une pratique amateur. En 1948, après avoir interrompu sa formation de boulangerie-pâtisserie, il intègre la police cantonale. II obtient auprès de ses supérieurs l’autorisation d’utiliser son appareil pendant son service, substituant aux croquis d’accidents des photographies prises à l’aide de son Rolleiflex. Admirateur du photoreporter Werner Bischof (qu’il rencontre en 1953), Arnold Odermatt réalise un grand nombre de clichés noir et blanc de carambolages ou de voitures accidentées. Pour rendre compte du volume sculptural de la tôle froisée – le plus souvent en contre-plongée avec un savant sens du cadrage –, il se sert d’un trépied placé en haut d’une fourgonnette; méthode qu’il enseignera par la suite à d’autres officiers de police. Le temps long de préparation laisse place à un temps de prise de vue de plus d’une dizaine de secondes. Puis, Arnold Odermatt prend un second jeu de photos „pour lui“, preuve qu’il poursuit des ambitions photographiques qui dépassent le seul cadre de ses missions. II immortalise également, en couleur cette fois-ci, ses collègues s’exerçant au tir, assurant la circulation, ainsi que les membres de sa famille, tenant de fait un véritable journal photographique „en service“ et „en congé“.
Se singularisant du photoreportage, les photographies de carambolages d’Arnold Odermatt ne mettent en scène aucun protagoniste et ne dévoilent qu’une action terminée. Mais leurs cadrages font ressortir les paysages mouillés et les routes serpentines de la région comme autant de potentiels catalyseurs d’accidents. Toute la particularité des clichés réside dans l’oscillation subtile entre la banalité des évènements représentés et leur matérialisation spectaculaire, leur aspect méthodique et utilitaire dérouté par une dramaturgie et un humour certains.
Elsa Vettier
in: L’énigme autodidacte
Musée d’art moderne et contemporain de Saint-Étienne Métropole
Snoeck Publishers, Gent 2021
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His photographs have a distinctive signature, mostly in black and white, and striking – even surreal – in their composition. Arnold Odermatt, who has died aged 96, was a Swiss traffic policeman whose images of the aftermath of car accidents taken in the 1950s and 1960s emerged from his attic half a century later to be hailed as photographic masterpieces of eerie beauty.
Beginning in the late 1940s, Odermatt was assigned to document the details of traffic incidents in the Nidwalden canton in central Switzerland, for use in insurance claims and court proceedings. He was supposed to sketch what had happened, but being no artist took it upon himself to photograph the scenes with his own Rolleiflex cameras. When his superiors found out what he was doing, he was summoned to explain his motives.
His initiative was approved, however, and he was allowed to convert an old lavatory into a darkroom. At first, since cars were scarce in the largely rural area where he worked, crashes were rare. But over the next four decades he would come to take some 60’000 photographs, including studies of his colleagues and family.
Odermatt took two shots of each accident, one for official purposes while the bodies of any victims were still present, and one when they had been removed; by and large it was the latter group that were eventually exhibited. He discovered that he got the best view of the site by mounting his tripod on the roof of his Volkswagen police bus, using a magnesium flare to illuminate the scene at night.
Perhaps because Odermatt had taught himself to use a camera, his photographs have a distinctive signature. Mostly in black and white, they are striking – even surreal – in their composition, the wrecks of cars becoming sculptural forms in an idyllic alpine landscape restored to calm after the intrusion of violence.
Crumpled cars embrace each other or wrap themselves around trees. Others lie in water like half-submerged beasts or partly exposed rocks, their speed stilled forever. Odermatt’s lens was an objective one, but often seemed tinged with wit and poignancy. Accidental art the photographs may be, but there is no doubting that they meet the test of making the viewer think and feel.
Odermatt retired in 1990, having risen during his career to become chief of transport police for the canton, in the rank of deputy chief inspector. Some years later, his son Urs Odermatt, a filmmaker, was going through things in the attic and began for the first time to study the vast number of images stored there. Hitherto he had merely thought of them as his father’s hobby.
This led to an exhibition at the police headquarters in Frankfurt during the city’s annual book fair. Their impact was such that they were subsequently shown at the Venice Biennale in 2001 and at the Armory Show in New York the next year.
The son of the chief forester of the Nidwalden canton, Arnold Odermatt was born at Oberdorf, near Lucerne, on May 25 1925. He got his first camera when he was eight by winning a card-collecting competition run by a soap factory; he earned money for the Kodak film it needed by performing magic tricks for local children.
Young Arnold was still unaware of how the box camera worked, and the first time he used it he kept opening the back after every frame to see if the picture was there. The man to whom he took the – exposed – film to be developed said he had never seen one so black.
His role model as a photographer was Werner Bischof, whom he once met while on guard duty at the Bürgenstock mountain, a tourist attraction on the shores of Lake Lucerne. The Magnum photographer was there hoping to snap Charlie Chaplin, who lived in Switzerland.
As it happened, Odermatt himself photographed Chaplin there, and in the 1950s was chosen to guide the likes of Konrad Adenauer, the West German chancellor, and Jawaharlal Nehru, the prime minister of India, when they visited. He also met Audrey Hepburn on her honeymoon and saw Sean Connery out partying while Goldfinger was being filmed in the country.
He particularly recalled the day that the film producer Carlo Ponti came into the police station at Stans, worried that he would not make it up a narrow road with his wide car in the face of oncoming traffic. On his motorcycle, Odermatt duly escorted Ponti to the top. There Mrs Ponti – Sophia Loren – put her cheek out of the window. „But I didn’t dare kiss Sophia Loren“, he said.
Latterly, Arnold Odermatt had been suffering from Alzheimer’s disease. His wife Dorly (Dorothee) predeceased him and he is survived by their son and daughter. Arnold Odermatt, born May 25 1925, died June 19 2021.
James Owen
Arnold Odermatt, police photographer whose images of wrecked cars were rediscovered as works of art – obituary
The Telegraph, London, 21. August 2021
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Crashhhhhhhh! L’on entendait encore le crissement des pneus sur le bitume, dans les photos d’Arnold Odermatt. Coccinelle encastrée dans la gigantesque poutre d’un pont, Citroën DS au nez ratatiné sur un arbre enneigé, camion renversé en équilibre instable sur sa cabine au bord d’une autoroute, dans un empilement quasi-constructiviste... Le photographe amateur suisse, né en 1925 et mort samedi à 96 ans, avait fait carrière au sein de la police du canton de Nidwald, de 1948 à 1990, mais connut une gloire sur le tard dans le monde de l’art avec ses photos en noir et blanc prises sur les lieux d’accidents de voiture. Chargé de documenter la scène, ce passionné de photo, qui avait reçu un appareil Rolleiflex pour ses 10 ans, se juchait sur le toit d’une fourgonnette avec son appareil et un trépied, prenait d’abord les réglementaires photos administratives, puis se faisait plaisir une fois les éventuelles victimes évacuées et les traces de sang effacées en immortalisant ce petit théâtre au sein d’un cadre soigné, où il faisait rentrer les paysages suisses (lacs, montagnes...) et se croiser les lignes de fuite, ne s’interdisant jamais l’humour. Contrairement aux travaux d’un Weegee ou d’un Enrique Metinides, ces images-là n’ont rien de tragique, comme si Odermatt avait surgi sur les lieux longtemps après le choc, tentant d’y trouver un enseignement ou une sagesse amusée sur la vie moderne et ses dangers ou sur l’absurdité de tout, même si quelques attroupements de badauds disaient le contraire.
Cette attention aux détails le fit aussi, après qu’un incendie eut ravagé un parking, s’intéresser aux phares fondus des bagnoles, qu’il saisit en de longs et impressionnants dégueulis colorés qu’on admira à Paris Photo en 2017. Ces dizaines de milliers d’images, Odermatt les avait soigneusement rangées au grenier, jusqu’à ce que son fils Urs Odermatt, cinéaste, les redécouvre pour un projet dans les années 90 et se charge de leur donner une visibilité. Leur compatriote, le déjà mythique commissaire d’expos Harald Szeemann, aperçut les images (lors d’une expo à l’hôtel de police de Francfort pendant la foire du livre, en 1998, nous apprend l’historienne de l’art Caroline Becher dans un article d’Études photographiques) et décida d’exposer 32 tirages à la Biennale de Venise en 2001. Quatre livres s’ensuivirent, publiés chez Steidl, le plus connu restant à ce jour Karambolage, où l’on retrouve ces petits drames routiers; il y eut aussi Im Dienst (En service), au charme un brin désuet, qui documente sa patrouille au travail, en couleur cette fois, collègues s’entraînant au tir avec de petits pistolets et des képis qui semblent désormais hors d’âge, ou ôtant la neige d’un panneau signalétique avec un balai en paille. Les photos, selon Caroline Becher, étaient à l’origine destinées à des projections de diapositives dans les écoles, afin „d’éveiller des vocations“.
Elisabeth Franck-Dumas
Le photographe Arnold Odermatt trace sa route
Libération, Paris, 22. Juni 2021
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Caroline Recher: Il était une fois Arnold Odermatt. Diaphane éditions, Montreuil sur Brèche
Vincent Huguet: On and Off Duty. Galerie Georges-Philippe & Nathalie Vallois, Paris
Harald Szeemann: Der Sensation den Wind aus den Segeln nehmen...
49. Biennale di Venezia, Arsenale, Venedig
Harald Szeemann: Taking the Wind out of Sensations’s Sails...
49. Biennale di Venezia, Arsenale, Venedig
Harald Szeemann: Nuevas sensaciones al descubierto...
49. Biennale di Venezia, Arsenale, Venedig
James Rondeau: Arnold Odermatt – Selected Photographs 1939-1993
The Art Institute of Chicago, Chicago
Sabine Eckmann: Cars and other Stories in the Photographs of Arnold Odermatt. Washington
University Gallery of Art, St. Louis
Dr. Ricarda Vidal: Caspar David Friedrich through a Broken Windscreen – Arnold Odermatt’s
Peaceful Crash Scenes. The London Consortium, London
Irene Müller: Durchbrochene Wahrnehmung, absichtsvolle Arrangements zufälliger Momente –
zu den Photographien von Arnold Odermatt. Museum Morsbroich, Leverkusen
Irene Müller: Perception tronquée, arrangements prémédités de moments de hasard – à propos
des photographies d’Arnold Odermatt. Museum Morsbroich, Leverkusen
...ist Karambolage immer noch ein großes, die Zeit überdauerndes Werk. Berührend ist das kurze Vorwort Urs Odermatts: Geständnisse eines halbstarken Bullensohns, für Gleichaltrige verdächtig, der nur durch besonderes Rowdytum seinen Platz erkämpfen konnte. Man ahnt den Erzählstoff.
Silke Hohmann
Monopol, Berlin, 12/2013
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Arnold Odermatt schafft Schicksalsbilder ohne Schicksalsgestalten. Glaubhaftigkeit und Schönheit via Katastrophe – eine beein- druckende Bildsprache.
Harald Szeemann
49. Biennale di Venezia
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Adenauers schöne Tochter
Ich war damals bei der Nidwaldner Kantonspolizei der Gang-go! (Geh-mal!) und im Dauereinsatz für alles. Die Hoheiten auf dem Bürgenstock waren aber stets sehr wohlwollend. Fast familiär. „Die Welt“ nannte mich einmal „Adenauers Schatten“. Heute würde ich Bodyguard oder Gorilla genannt werden und einen Knopf im Ohr tragen. Mit schwerer Kanone auf der Hüfte und den Kopf voller Personenschutzpläne. Adenauer hatte ich damals wegen dessen schöner, kluger Tochter Lotte fast vergessen.
Ein Leben später photographierte ich, der alte Grufti in dreckigen, hochgestülpten Hosen, einen Grashalm als Makroaufnahme, unlängst, hier im Moor in der Nähe, mit meiner mittelalterlichen Balgenkamera. Ein wilder Haufen welscher Soldaten rollte an, und ich sorgte mich um meine zivilen Absichten. Der Leutnant salutierte, schob mich weg, inspizierte eingehend das Bild im Sucher und richtete sich mit einem längeren Stegreifvortrag über den fleischfressenden Sonnentau an seine Rekruten. Viel mehr als „Merci, Monsieur“ habe ich aber nicht verstanden.
Arnold Odermatt
Eröffnungsrede bei einer Privatausstellung
auf dem Bürgenstock
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Ein VW Käfer, der auf dem Rücken liegt, hilflos, nun, hilflos eben wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt. Ein Mercedes, der sich brachial um eine Laterne gewickelt hat und jetzt aussieht wie eine zerknitterte, aufgespießte Olive im Martini. Das sind Bilder, die man im Kopf hat, wenn von Arnold Odermatt die Rede ist. (...) 1925 in Oberdorf geboren, trat er 1948 in die Nidwaldner Polizei ein und wurde eher aus Verlegenheit und der Neigung zur Akribie ein großer Photograph. Vor allem die Verkehrsunfälle, zu denen er gerufen wurde, photographierte er (mit einer Rolleiflex) – nicht im Dienste eines boulevardesken Voyeurismus, sondern aus Gründen des Protokolls. Nicht sehr am Drama, mehr am Verstehen interessiert.
Und doch – oder eben deshalb: wurde daraus eine Kunst. Die Kunst, genauhinzuschauen. 2001 wurden seine so eigensinnigen wie präzisen Bildarbeiten von Harald Szeemann für die 49. Kunstbiennale in Venedig ausgewählt. Der Polizist, der ein Photograph war, wurde bekannt als Photograph, der ein Polizist war. Die Bilder von Arnold Odermatt gingen rund um die Welt.
Der Reiz des eben bei Steidl von seinem Sohn, dem Regisseur Urs Odermatt, herausgegebenen, sorgfältig zusammengestellten Bildbands In zivil liegt darin, einen ganz anderen Odermatt zu zeigen: den Privatmann in zivil. Den Vater, Skiläufer, Vespafahrer, Urlauber – und grandios normalen Familienmenschen. In einem uniformierten Dasein – auch ohne Uniform. Über die Jahre sind Bilder der Familie entstanden, die auch Bilder einer Ära sind. Da ist die Nachkriegszeit, und da sind die Träume von den Reisen, der Stolz auf das neue Auto, der Sohn vor dem Gipfelkreuz, das Schwesterchen mit Hund, dann 1970: der Ausbruch aus dem Schweizer Dorfleben – auf nach San Diego. Mit Hawaiihemd und Ford Mustang. Auch das: eine Art Uniformsehnsucht der Zeit. Bis heute. Grauenhaft. Und so schön. Man könnte heulen. Wenn man die Unfälle sieht. Wenn man die alten Familienbilder sieht, auch.
Gerhard Matzig
Süddeutsche Zeitung, München, 3. März 2014
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...der Sohn macht den Vater zum Weltstar – es gibt kein Land, in dem Arnold Odermatts Steidl-Bücher nicht in der hauptstädtischen Nationalbibliothek zu finden sind –, das hat es unter Künstlern schon gegeben. Ein Regisseur macht einen Polizeiphotographen zur Ikone – das ist die Ausnahme. Bei ähnlichen Künstlerkomplizenschaften gibt es einen Täter und ein Opfer. Die Haupt- und die Nebenrolle. Zwei Täter – da kenne ich kein anderes Beispiel. Abgesehen von Bill Gates, der wohl kein Problem damit hat, daß Windows noch mehr Leuten bekannt ist, als er selbst, Windows’ Erfinder und Erschaffer.
Urs Odermatt
E-Mail an Michael Birkner, 25. Mai 2018
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Der alte Odermatt sträubte sich immer gegen die Kunst. Aber der Erfolg gab Urs Odermatt recht.
Daniel Blochwitz
Kunsthalle Erfurt
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Dans le trésor de négatifs de son père, Urs Odermatt a choisi, avec sa sensibilité d’artiste contemporain, les motifs qui lui paraissaient les plus frappants, les plus originaux. Avec son goût pour la fiction, il a su repérer très habilement ce qui serait apprécié par le public contemporain et qui gagnerait un supplément d’ironie et d’attrait par le décalage temporel et l’accrochage dans les galeries d’art. Son intelligent travail d’editing a contribué à donner une identité claire et séduisante à l’œuvre de son père.
Caroline Recher
Il était une fois Arnold Odermatt
Diaphane éditions, Montreuil sur Brèche 2012
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Urs Odermatt explique que son père les faisait poser durant des temps si longs que tous ses modèles en étaient au bord de l’exaspération.
Caroline Recher
Arnold Odermatt – par-delà les sept montagnes
Études photographiques, Paris, 28/2011
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C’est une histoire épatante pour femmes de goût, celle d’un Suisse, Urs Odermatt, qui voulait devenir „conducteur de locomotive. Et gagner le Paris-Dakar“. A l’école, comme les autres, le petit Urs franchit le temps sur son tapis volant, puis se lança dans le cinéma et le théâtre. Mais, comme son père, Arnold, aujourd’hui 81 ans, avait passé sa vie de fonctionnaire à saisir ses copains flics avec son Rolleiflex, il s’occupa de lui et de son trésor, une mine d’or en couleurs sur le quotidien de la police du canton suisse de Nidwald.
Brigitte Ollier
Libération, Paris, 7. Dezember 2006
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In Stans gab es den Dorfphotographen Weber, einen zugewanderten Basler. Ich habe ihm meinen ersten Film zum Entwickeln gebracht. Nach jeder Aufnahme hatte ich die Kamera geöffnet, geprüft, ob schon etwas auf dem Negativ zu sehen sei, und den Film – die Hand vor der Optik! – wieder zurückgespult. Weber kam aus der Dunkelkammer und baslerte, so schwarzes Kodak hätte er noch nie gesehen.
Arnold Odermatt
Galerie Lelong, Zürich
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Sein erstes Photo, auf dem auch etwas zu sehen war, entstand 1936. Es zeigt einen seiner Brüder mit drei Schafen und – kleiner Inszenierungsfehler – mit Pferdegeißel in der Hand.
Michael Gasser
Weiches Herz, scharfer Blick
041 – Das Kulturmagazin, Luzern, September 2013
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Ich habe bei der Nidwaldner Polizei keinen Stil eingeführt, sondern die Photographie. Nachdem meine Vorgesetzten gesehen haben, wie ich zeichne, war das nicht mehr so schwierig.
Arnold Odermatt
Musée de l’Élysée, Lausanne
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Der Unterschied zwischen Abbilden und Schaffen ist die Form, das Wie, nicht das Was, das war immer mein Narrativ. Arnold bildet nicht ab, er formt durch Wahl, Cadrage, Zufügen und Weglassen. Narrativ schreibt und photographiert jeder Journalist, gerade dies tut Arnold nicht, sondern er bricoliert sich die Wirklichkeit zurecht, bis sie seinem autarken Formdenken entspricht. Daß er dies selbst bei Arbeiten macht, die von Protokoll und Gericht gefordert oder als Eigenauftrag zur Nachwuchsrekrutierung qua Lichtbildvortrag geplant sind, ist eines der Geheimnisse seiner Unverwechselbarkeit. Dabei wüßte ich kein Konzept und keine künstlerische Intuition zu beschreiben, sondern nur den nidwaldisch bockigen Willen, es so zu machen, „wie ich halt will“.
Urs Odermatt
E-Mail an Michael Birkner, 23. November 2020
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Seit fünfzehn Jahren eine Ausstellung nach der anderen! Erst auf der ganzen Welt. Jetzt in der Schweiz. Daß ich oft selbst auf den Photos bin, kann ich schlecht abstreiten – ich wollte den Selbstauslöser ausprobieren.
Arnold Odermatt
Nidwaldner Museum, Stans
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Es ist die Gleichzeitigkeit von Objektivität und Subjektivität, von Dokumentation und Interpretation, von Abbild und Inszenierung, die sich in Arnold Odermatts Photographien fast plakativ offenbart.
Daniel Blochwitz
Kunsthalle Erfurt
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Der Regisseur und Autor Urs Odermatt sichtete die vergessenen Bildbestände von Arnold Odermatt Anfang der neunziger Jahre für den Spielfilm Wachtmeister Zumbühl und erkannte die Qualität dieses Konvoluts. Der Erfolg gab ihm recht.
Prof. Dr. Kai Uwe Schierz
Kunsthalle Erfurt
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Wir erfahren mehr über das Leben, das Arnold Odermatt gern geführt hätte, als über das Leben, das er geführt hat.
Daniel Blochwitz
Photobastei, Zürich
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Meine Schwester hatte nie einen Hund. Arnold fand, daß es zum Bild paßt, und er lieh sich den Pudel von einem Spaziergänger. Der wartende Spaziergänger konnte nicht ahnen, wie lange ein Photo bei Arnold dauert.
Urs Odermatt
Miesiąc Fotografii w Krakowie, Krakau
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Sein Auge war ein Polizistenauge, selbst wenn er als Familienvater das Aufwachsen der Kinder festhielt.
Daniele Muscionico
Der Tatortreiniger
Neue Zürcher Zeitung, 6. Februar 2017
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„Man hat gesagt, ich sei ein Blechvoyeur. Ja wäge miine, wieso nicht? Wenn zwei VW Käfer ineinander putschen, dann sieht das ja wahrhaftig ein wenig wie verliebt aus. Das war mein Antrieb: mit Ironie und Witz vom Traurigen ablenken, das mir im Beruf nur allzuoft begegnete. Sie finden unter meinen Aufnahmen nicht eine, die Blut oder sonst eine schreckliche Situation zeigt. So photographierte ich während Jahrzehnten jeden Unfall im Kanton. Und das ist das Wichtigste: immer vom Dach des Polizei-VWs herab. Obenabe. Das war das Entscheidende. Eine einfache Idee, aber sie hat meinen Bildern eine Handschrift gegeben. Der Gepäckträger auf dem Dach war wie ein Podest. Es ergab sich fast eine Vogelperspektive. Man sah nicht nur grad den Unfall, sondern Hintergrund, Leute, alles.“
Balz Theus
Ein Tag im Leben
Das Magazin, Zürich, 24/2001
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Landschaftsbilder will Arnold Odermatt publizieren, die Schönheiten seiner Heimat zeigen. Urs Odermatt zögert, als sein Vater ihn um Hilfe bittet. Bis er bei Recherchen für Wachtmeister Zumbühl die zündende Idee hat: das Phototagebuch eines Uniformierten! Der Vater hält wenig von dem alten „Chabis“.
Luise Anderegg
Buchjournal, Frankfurt am Main, 4/2006
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Arnold Odermatt hatte durchaus Standesdenken: Er besaß als einziger eine Mittelformatkamera. Seine Photos waren dank größerer Kodakfläche schärfer. Er hatte als Beamter Zeit – auch mitten auf der gesperrten Straße. Zeit für Stativ, Fernauslöser und den richtigen Augenblick. Für das zivile Nidwaldner Fußvolk blieben Kleinbildkamera und Schnappschußstreß. „Scharf“ war eine harte Währung für Photographen.
Urs Odermatt
E-Mail an Markus Hartmann, 1. September 2016
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Die neue Leitung aus Zürich hat gesehen, daß das Nidwaldner Museum voll war mit Lokalkultur, aber der einheimische Weltstar fehlte.
Urs Odermatt
Gespräch mit Matthias Dell
in: Ein gutes Bild muß scharf sein!
Hartmann Projects, Stuttgart 2017
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Die 1935 beim Steinfels-Seifenfabrik-Wettbewerb gewonnene Boxkamera war ein billiges Modell, das Mittelformat nutzte und 6x9-Negative lieferte, aber wegen des einlinsigen Objektivs nur sehr flaue Bilder bot, die lange Verschlußzeit nur unbewegte Motive zuließ, und die Kamera schneller kaputt war als der Negativfilm voll. Der Wettbewerbspreis hatte ein Dutzend käuflich erworbener Nachfolger, bis der letzte 1948 an der Polizeischule Luzern unter zupackenden Rekrutenkollegenhänden den Geist aufgab.
Für die Polizeischule in der „Großstadt“ hat Arnold Odermatt sich nach einer soliden Männerkamera mit guten Objektiven und schneller Verschlußzeit umgesehen und bei einem Photohändler um eine zweiäugige Rolleiflex 3,5 der Firma Franke & Heidecke gefeilscht. Ein paar Jahre später kam die lichtstärkere Rolleiflex 2,8 dazu; diese Kamera ist heute so alt wie der Herausgeber und tut noch immer ihren Dienst.
Urs Odermatt
Galerie Springer Berlin
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In Zeiten, da ein zusätzlicher Dienstbleistift offiziell beantragt werden mußte, war ein Negativfilm ein kostbares Gut.
Paulina Szczesniak
So traurig können Autos gucken
Tages-Anzeiger, Zürich, 11. Januar 2014
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„Meine Jugend bestand in erster Linie aus Warten“, erinnert sich Urs Odermatt. Bis „kurz vor ewig“ habe es gedauert, bis Arnold Odermatt mit der Kameraeinstellung und den Posen seiner Objekte zufrieden war. Um kostbaren Film zu sparen, schoß er von jeder Szene jeweils nur ein Bild. Den Vater sah Urs Odermatt wenig, weil der quasi immer im Dienst war – kaum zu Hause, schellte das Telephon oder rauschte der Polizeifunk, und Odermatt senior mußte wieder ausrücken. Das Photographieren des Vaters gehört für Urs Odermatt in der Erinnerung „zum Mief meiner Jugend“.
Michael Lütscher
Landjäger mit Kamera
Schweizer Familie, Zürich, 9. März 2017
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l would greatly appreciate it if you would forward my letter to the world-renowned photographer, Mr. Arnold Odermatt. It was recently drawn to my attention that Mr. Odermatt is a retired police officer in Switzerland, and as a retired Assistant Chief in the New York City Police Department, l am interested in reaching Mr. Odermatt regarding both his fine work, and his name, which we share in common. It is possible that, as my family is also originated in Switzerland, we are, in fact, somehow related.
John T. Odermatt
New York City Police Department
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Oft trafen wir uns auf den Unfallstellen. Arnold Odermatt photographierte für die Polizei, ich für den „Blick“. Ich war neidisch: Odermatt stellte immer das große Polizeifahrzeug mitten auf der Straße am idealen Ort hin, kletterte die Leiter hoch, stellte das Stativ auf und photographierte mit seiner Rolleiflex. Und ich war der Lappi; meine Bitte, auch einmal vom Dach photographieren zu dürfen, winkte er kategorisch ab. Heute können wir darüber lachen.
Josef Ritler
„Blick“-Reporter
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Unter den Füßen knirscht Kies, die Sommerbrise riecht nach Bergkräutern. Ein älterer, großgewachsener Mann geht gutgelaunt neben einem fünfundzwanzig Jahre jungen Polizisten, den er eingehakt hat. Der Weg führt fünfhundert Meter über dem Vierwaldstättersee dem Felsen entlang, der steil abfällt. Wer seine Arme ausbreitet, glaubt, wie ein Vogel über Wasser und Land lossegeln zu können.
Es ist August 1950. Die zwei Männer sind der erste deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer und Dorfpolizist Arnold Odermatt aus Stans. Ihnen folgen Adenauers Tochter Lotte und alle Minister der deutschen Regierung samt Ehefrauen. Sie spazieren zum Wahrzeichen des Bürgenstocks, zum Hammetschwand-Lift. Arnold Odermatt erinnert sich: „Oben angelangt, fragte mich Adenauer nach dem Namen eines kleinen Bergs.“ Der Polizist wog ab. Sollte er sein Unwissen zugeben und sich vor Adenauers gleichaltriger Tochter blamieren? „So sagte ich einfach etwas, aber Adenauer meinte großväterlich: ‚Mein Lieber, der ist doch dort drüben.‘“ Alle lachten und applaudierten. Mit Lotte durfte Arnold Odermatt trotzdem einen Kaffee trinken.
Adenauer und seine Gäste erholten sich im Nobelkurort neben weidenden Kühen. Beschützt wurden sie einzig von Polizist Arnold Odermatt. Seine Aufgabe war es, lästige Bewunderer fernzuhalten. „Das reichte, es waren andere Zeiten.“ Drei Jahre später kam der indische Premierminister Jawaharlal Nehru für einen Friedensgipfel auf den Bürgenstock. Odermatt wurde wieder als einziger aufgeboten. Der Polizist, der später als Photograph weltweite Berühmtheit erlangen sollte, erblickte einen besonderen Gast: „Charlie Chaplin! Schlagartig war Nehru, das Oberhaupt von unzähligen Millionen Menschen, uninteressant für mich.“ Als Odermatt heimlich seinen Photoapparat hervorkramte, ertappte ihn Chaplin und fragte, ob er einen Regisseur brauche. „Stellen Sie sich das vor: Chaplin büschelte all die Leute, posierte selbst – und ich drückte ab!“
Immer mehr Filmstars fanden auf den Berg. Sean Connery und seine Crew feierten in den Drehpausen zu Goldfinger ausgelassen Parties, Audrey Hepburn feierte stilvoll ihre Hochzeit. „Die Stars waren höflich“, erinnert sich Odermatt. Einmal habe Sophia Loren persönlich den Polizeiposten in Stans angerufen. Ihr Mann wagte sich mit dem breiten Auto nicht bei Gegenverkehr auf die enge Straße. „Also eskortierte ich Herrn Ponti mit meinem Motorrad auf den Berg.“ Oben angekommen, reichte die Diva dem Polizisten die Hand. „Dann streckte sie mir ihre Wange hin. Aber ich traute mich nicht, Sophia Loren zu küssen.“
Ueli Bischof
Nobelkurort Bürgenstock
UBS Magazin, Zürich, 1/2017
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Ich habe im Fotomuseum Winterthur die Kollision der falschen Realität bei John Waters und der wahren Realität in Arnold Odermatts Unfallbildern als sehr anregend empfunden. Ich war erstaunt, mit welch minimalem Personalaufwand ein derart hochrangiges, vielfältiges und dichtes Programm realisiert wird.
Anne Wilkes Tucker
Museum of Fine Arts, Houston
Neue Zürcher Zeitung, 11. August 2004
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Aus Anlaß des neunzigsten Geburtstags widmet ihm die Galerie Springer Berlin eine weitere Ausstellung – eine neue Serie mit zwölf Farbbildern von zwei allein stehenden Bäumen auf dem Ennerberg in Buochs. Arnold Odermatt hat sie während zwanzig Jahren photographiert. In verschiedenen Jahreszeiten und Wetterstimmungen. „Ich stand immer millimetergenau an der gleichen Stelle“, erzählt er. Der kleinere Baum wurde Ende 1999 vom Sturm Lothar geknickt. Zunächst dachte er, der Orkan habe sein Sujet zerstört. „Doch dann sah ich, daß aus dem geknickten Stamm neue Zweige wuchsen“, erzählt er und zeigt die Bildserie auf dem Computer. Die Farbdias seien für die Verarbeitung digitalisiert worden. Doch photographiert habe er alles mit der analogen Kamera.
Martin Uebelhart
Arnold Odermatt malt mit dem Licht
Neue Nidwaldner Zeitung, Stans, 29. Mai 2015
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David Bowie was a fan.
Adam Hay-Nicholls
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The mid-century Swiss photographer’s images struggle with an inability to represent contact between law enforcement and people.
Turning a camera on law enforcement is often a radical act, illuminating patterns of violence and brutality enacted by police officers on BIPOC communities across the globe. Over the past month, documentation of the murder of George Floyd by three Minneapolis police officers has sparked massive protests and renewed cries to abolish the police. The perpetuation of violent policing depends on the anonymity and invisibility of officers, a veil of protection for what sociologist Alex Vitale calls „the point of contact between the coercive state and its citizens.“ Photography and video by civilians have long served as unofficial checks on the criminal justice system: to this end, Swiss photographer and ex-policeman Arnold Odermatt is both exception and example. The artist had no formal training and served on the police force of rural Swiss canton Nidwalden for over 40 years before his retirement in 1991. Curator Harald Szeeman saw a show of 30 photographs at a Frankfurt police department event in 1998 – Odermatt debuted at the Venice Biennale just three years later. His images provide a glimpse into the artifice and violence of law enforcement, both replicating and destabilizing an aesthetics of policing dependent on power and conformity.
German publishing house Steidl collected Odermatt’s work for local law enforcement in 2016’s Im Dienst („On Duty“ in English) . The bulk of the images are the result of a curious problem faced by the department in the 1960s and ’70s: Swiss youth were declining to join the force and work the beat, and aging officers were quickly transitioning into retirement. This was no accident: in the 1960s, a strong leftist movement in Switzerland coupled with a global focus on police brutality to push for reform, culminated in the Globus Riots of June 1968. Zurich protesters established an autonomous city center before Swiss „polizei“ used violent crowd dispersion tactics, seriously injuring 41 civilians (sound familiar?). A young Odermatt was tasked with curating a campaign that could be used to recruit young people into the unpopular profession. His fellow officers were put in full uniform, hairs cut and beards shorn, and whisked into a photo shoot with Odermatt that would be comical if it were not so darkly familiar. The resulting images are as disturbing as they are relevant: on display is a performative fantasy of what it means to police, from midcentury Switzerland to contemporary America.
Odermatt’s compositional choices illuminate the image of policing most enticing to the officers themselves, forming a diorama of uniformity, artifice, and extreme threat. In one photograph, a row of police officers stands in a carefully arranged line on a picturesque dirt road draped with greenery, each with a foot placed carefully behind the next, pointing a small handgun at an off-screen target. A fence skates down the left-hand side of the image, so that the group appears to be aiming, strangely, right into the chain-link not more than a few feet in front of them. This fairytale firing squad fails even in its most idealized form: whatever target the viewer is intended to imagine is clumsily constructed, interrupted by basic infrastructure. Odermatt’s images from this series are full of contrived stances and squinted faces meant to signify a belabored allegiance to the enforcement of law. It’s not surprising that policemen make terrible actors: their dramaturge is a criminal justice system that confuses punitive social control for community empowerment. Odermatt’s models need Stanislavski, not Spielberg. Their awkwardness under the lens reveals the shaky foundations on which policing is built, the vast divide between displays of power and acts of public service. What becomes apparent through the images is an inability to represent policing in a way that does not rely on performances of violence, be they symbolic or actual.
The menace of Odermatt’s law enforcement does not have a visible object: the officers appear as if in a dream, left to assert themselves over vacant Swiss landscapes. Police officers are often the only figures pictured in Odermatt’s images, usually among the wreckage of car crashes. The 2003 collection Karambolage („Smash-up“ in English) features numerous scenes that trace the looping paths of motorcycles, bicycles, and Volkswagens before their accidents, with all victims conspicuously missing. In one ominous image, a 1970s Beetle collides head-on with Porsche on a highway. An officer has traced the outline of each vehicle’s skid marks in chalk on the black pavement, from the beginning of the accident to their wreckage, which is severe. Not a single person occupies the image, though traces abound. The same is true of the recruitment scenes: though the demonstration of power remains at the fore, the citizens upon whom violence and threat are exercised remain physically invisible. The resulting photographs are a fantasy of the familiar: they imagine dominance without subjugation, violence without victims. Odermatt’s images serve both to replicate an aesthetic structure of policing dependent on the absence of civilians and to reveal it for what it is – impossible.
Odermatt’s images struggle with an inability to represent contact between law enforcement and people. What emerges from the photographs is the notion that the ideal police force can only exist without a populace. As calls for abolition increase, it is clear that for many, the reverse is equally true: the populace can only exist (live, flourish) without a police force. In Buochs, 1965, two policemen steer a motorboat across Lake Nidwalden, Switzerland, posing as though caught in mid-conversation. Framed in the rearview mirror is Odermatt, holding up his camera. Odermatt, wittingly or unwittingly, contradicts the ubiquitous phrase uttered from cop to bystander: „Nothing to see here, move along.“ Odermatt says the opposite: don’t move, at least, not as long as there is a whole lot to be seen here.
Claudia Ross
Arnold Odermatt’s Photographs
Lift the Curtain on Problematic Policing
Garage Magazine, New York, 24. Juli 2020
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Für die Ausstellung Arnold Odermatt – Polizist, Photograph, Schweizer in der Kunsthalle Erfurt richtete ich die Installation Die Dunkelkammer des Arnold Odermatt mit Originalrequisiten des Künstlers ein: Der chemiefleckige Laborblaumann im bernsteinfarbenen Licht der Dunkelkammer, mit Gaffer-Tape geflickte Arbeitsgeräte, Agfa-Schachteln mit Pausenimbiß neben dem dienstmüden Durst-Vergrößerer aus dem Südtirol, die Rolleiflex neben der Nidwaldner Polizeiuniform – beide von den Jahren im amtlichen Einsatz gezeichnet. Die Bildstraße Arnold Odermatt weiß, wie er photographiert werden will verrät, wie die Ellbogen des Photographen und des Herausgebers Urs Odermatt um das beste Portrait des Künstlers kämpfen. Dazu nie gezeigte Aufnahmen im Film Arnold Odermatt in der Dunkelkammer – der Künstler ringt den Tücken des Photolabors Baryt-Abzüge für die Ausstellung ab. Immer mit dem Ziel: Ein gutes Bild muß scharf sein!
Eine Werkschau mit Filmen von Urs Odermatt ergänzte die Ausstellung in der Kunsthalle Erfurt: In Lopper hielt Arnold Odermatt mit einer stummen Paillard-Bolex-Schmalfilmfederwerkkamera auf 16mm-Schwarzweißumkehrfilm verschiedenster Sortierung – was der Schlußverkauf am Dorfmarkt feil bot – den Bau der ersten Schweizer Autobahn fest und kannte qua Polizeiuniform keine Baustellensperre. In Wachtmeister Zumbühl photographierte Arnold Odermatt den Schauspieler Michael Gwisdek am Filmset, nachdem er ihn eingewiesen hat, wie ein Schweizer Wachtmeister die Langzeitbelichtung des Tatorts mit Magnesium ausleuchtet – querwärts, nicht längswärts, damit der Photograph im Bild nicht zeichnet. Gekauftes Glück, Urs Odermatts erfolgreichste Kinoarbeit, trieb 1989 einen Keil in die selbstgerechte Eintracht der ländlichen Schweiz und erntete wüstes Schimpfen in der alten Heimat – Arnold Odermatt zeigte mit Photos der Dreharbeiten, daß ein Landschaftsparadies nicht nur Autos, sondern auch Menschen als Wracks dulden muß. Das Böse und die Abgründe in der Idylle eines friedlichen Dorfs im Kanton Aargau machte Urs Odermatt in Der böse Onkel zum Thema einer rasenden, bildgewaltigen Sprech- und Schnittoper.
Jasmin Morgan
Die Dunkelkammer des Arnold Odermatt
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Die Umgebung ist ländlich und bäuerlich, doch die Bilder mit ihrem geometrischen Aufbau und den strengen Linien bringen die Coolneß der sechziger Jahre ins verschlafene Niederwald.
Ein einfacher Dorfpolizist
und der Autoirrsinn der sechziger Jahre
Stern, Hamburg, 23. Juni 2019
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Der Gruppe Tortoise aus Chicago haben die Photos des Nidwaldner Photographen Arnold Odermatt so gut gefallen, daß sie vor drei Jahren gleich das Cover der Box A Lazarus Taxon und die vier darin versammelten CDs mit ihnen gestaltet haben. Ein Auto kracht in die Wand eines Tunnels, die Schleuderspuren sind mit Kreide nachgezeichnet. Ein mit Polaris-Glace angefüllter Lastwagen versperrt beide Fahrbahnen im Tunnel. Die Spuren aus dem schwarzen Gummiabrieb der Pneus lassen den Weg erahnen, den das Fahrzeug genommen hat, als der Chauffeur die Kontrolle verlor.
Fredi Bosshard
Der Polizeiphotograph
Die Wochenzeitung, Zürich, 26. November 2009
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In der Budgetberatung 1950 im Landrat forderte der Polizeidirektor Fr. 10’000.– für die Anschaffung eines Autos, eines Photoapparates – die Beamten hatten bislang private Geräte verwendet –, einer Blitzlichtausrüstung, einer Dunkelkammerausrüstung und von Kleinmaterial. Er begründete die Notwendigkeit der Anschaffung der Photoausrüstung damit, daß man den Leuten nicht vorschreiben könne, daß sich Verkehrsunfälle nur am Tage ereignen dürften, weil die Polizei keine Ausrüstung für Nachtaufnahmen habe.
Sein Regierungskollege A. Wagner konnte die unhaltbaren Zustände bestätigen: Sein Sohn Paul war Beamter der Kantonspolizei (und späterer Kripochef). Bei Verkehrsunfällen mußte dieser zuerst den Garagen nachspringen, um ein Fahrzeug aufzutreiben, und dann erst noch froh sein, wenn er mit dem Motorrad des Knechts seines Vaters an den Unfallort fahren konnte.
Regierungsrat Wagner wußte dem Parlament auch zu berichten, daß die Angehörigen des Korps einen Lichtpausapparat und spezielles Papier für die Rapporte aus der eigenen Tasche bezahlt hätten, weil der Kredit dafür abgelehnt worden sei. Sogar die Handschellen und Gummiknüppel seien zum Teil von den Polizisten persönlich beschafft worden.
Wie die Lokalpresse zu berichten wußte, bewilligte der Landrat auf dies hin sichtlich beeindruckt die verlangten Fr. 10’000.–. Damit wurde dann der erste Dienstwagen der Kantonspolizei Nidwalden, eine Occasion der Marke Chevrolet, gekauft. Das war auch dringend nötig, denn nicht immer stand der Töff des Knechts von Regierungsrat Wagner oder ein anderes Fahrzeug zur Verfügung. Dann mußte notgedrungen mit dem Fahrrad „ausgerückt“ werden. Dabei konnte es vorkommen, daß die Beamten dermaßen verschwitzt am relativ weit entfernten Unfallort eintrafen – Tenueerleichterung durch Ausziehen des dicken Waffenrocks war natürlich verboten, weil unter der Würde eines Beamten –, daß die Leute fragten, ob es in Stans regne...
Rolf Koch, Ruedi Amstad
International Police Association (ipa) – Region Zentralschweiz
Delegiertenversammlung, 20./21. März 1987, Luzern
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Arnold Odermatt venait de fêter ses 96 ans, certes. N’empêche que le décès du Nidwaldien jetait un froid. Depuis sa tardive découverte par le monde artistique, on le croyait presque éternel.
Etienne Dumont
Bilan, Genf, 22. Juni 2021
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Jetzt ist der Auslöser von Arnold Odermatts Kamera für immer verstummt. Bleibt die Erinnerung an einen Polizisten, der den Weg in die Ränge der großen internationalen Photographen gefunden hat.
Urs Tillmanns
Fotointern, Neuhausen, 22. Juni 2021
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Sein photographisches Werk – mit ihm sein Name – wird überleben und kommende Generationen begeistern; eine Leistung, die nicht viele von uns in ihrem Leben schaffen.
Andreas Seibert
Windisch
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Sein Werk ist einmalig und großartig, weil er scheinbar emotionslos festhielt, was polizeiliche Arbeit war, dies aber mit einem so genauen Auge und mit so viel Sicherheit in der Bildgestaltung geschah, daß viele seiner Aufnahmen für mich eigentliche Ikonen sind.
David Streiff
Aathal
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C'est son fils Urs Odermatt qui remarque bien plus tard la qualité esthétique des clichés scientifiques de son père et le fait connaître au monde de l'art.
Charlotte Laubard
Une énigme à résoudre
in: L’énigme autodidacte
Musée d'art moderne et contemporain
de Saint-Étienne Métropole
Snoeck Publishers, Gent 2021
Lehrabschlußprüfung des Kantons Luzern
14. April 1945
Dorly Odermatt, Buochs
und Arnold Odermatt, Oberdorf
vermählen sich am 19. April 1952
in der Dorfkirche Stans
Robert Springer, Urs Odermatt, Alexandra Schild
Arnold Odermatt, Dr. Beate Kemfert
photographiert von Jasmin Morgan
Galerie Lelong, Zürich
Hergiswil, 1958
Tod
Arnold Odermatt starb am 19. Juni 2021, 4’00 Uhr, in seinem vertrauten Zuhause in Stans ‒ rund um die Uhr gepflegt und betreut von Freunden und Familie ‒ an den Folgen einer Alzheimererkrankung. Er hatte einen entspannten Feierabend und war keine Sekunde allein.
Arnold Odermatt hinterläßt ein großes photographisches Werk, das Leben und Arbeit in Nidwalden und den Einmarsch der modernen Zeit während eines halben Jahrhunderts dokumentiert ‒ sein Nachlaß ist ein Stück Schweizer Kulturgeschichte.
Wir verneigen uns von einem großen Menschen und Künstler.
„Der Tod ist ein Skandal“, schimpfte ich gern mit Marcel Reich-Ranicki, aber in diesem Duett hörte man seit acht Jahren auch nur noch meine Stimme. Wenigstens glückte es uns, den Tod schlechtgelaunt zu halten: Arnold Odermatt schaffte es ins famose 97. Lebensjahr, und meine Partnerin Jasmin Morgan, die Rund-um-die-Uhr-Pflegerin Éwa Beňušková aus Partizánske bei Preßburg („Ist Arnold fesch Policajt und Kinstler!“) und ich machten es möglich, daß der Künstler bis zuletzt in seiner eigenen Wohnung bleiben konnte und keine Sekunde allein war. Er fühlte sich und sein Werk in guten Händen, hat uns entspannt verlassen und läßt uns nicht ohne Stolz zurück.
Urs Odermatt
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Arnold Odermatt, grand photographe suisse originaire du canton de Nidwald, nous a quitté le 19 juin à 96 ans. II était policier, intégré à la police cantonale et sa passion photographique est née avec un appareil photographique gagné lors d’un concours à l’âge de 10 ans. Une passion qui n’a jamais faibli.
Ce n’est cependant qu’à 76 ans, en 2001, qu’Arnold Odermatt émerge comme artiste reconnu, à la Biennale de Venise, par l’exposition de 32 photographies d’accidents de voiture, sélectionnées par l’œil averti de Harald Szeemann, le mythique commissaire d’exposition et historien d’art suisse. Cette découverte tardive due en premier lieu au regard attentif et sensible de son fils Urs Odermatt, n’en est que plus significative. De nombreuses expositions suivent dans plusieurs pays et dans les institutions les plus prestigieuses.
Au-delà de la documentation, ses photographies sont le fruit d’un travail soigné et cadré au millimètre, de „la belle photo“ de la tôle froissée, de la voiture plantée ou retournée. Un œil d’esthète – pour se mettre à distance du désastre, seule comptait la composition minutieuse de la scène.
Ces images fortes font écho aux installations artistiques américaines tel le Cadillac Ranch 1974 des architectes Chip Lord, Hudson Marquez et Doug Michael, mais aussi aux sculptures de John Chamberlain, de Arman ou de César. L’esprit du temps explique ces concordances nidwaldiennes.
Son travail photographique est aussi subtilement empreint d’amour pour son pays, une Suisse pure et à la conscience nette – a-t-elle jamais existé? Ses photographies nous touchent particulièrement aujourd’hui.
Arnold Odermatt a su créer un espace de création artistique propre, de haut niveau technique et de signification internationale. Au sein des vallées alpestres, ses contraintes ont été sa chance – ses ressources intérieures, sa curiosité et sa passion lui ont permis de s’exprimer magistralement. Qu’il soit remercié pour sa grande gentillesse, sa modestie, sa fraîcheur et son parcours artistique unique. Bon voyage, Arnold!
Simon Studer
Hommage à Arnold Odermatt (1925–2021)
Simon Studer Art, Genf, 21. Juni 2021
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Cher Monsieur,
C’est avec tristesse que je viens d’apprendre le décès de votre père Arnold Odermatt.
La disparition d’un être cher est toujours un moment de peine et les mots sont souvent bien peu de chose dans de telles circonstances, ceci particulièrement lorsque la personne aimée a marqué son entourage et son époque comme votre papa a su le faire.
Son œil implacablement analytique, mais porteur de poésie et parfois même d’humour, s’est fait ambassadeur partout dans le monde d’un aspect de notre Suisse côtoyé par tous, mais que nul autre regard avant lui n’avait su voir ni saisir.
L’héritage qu’il laisse derrière lui représente bien plus que de simples images, car chacune d’entre elles abat les frontières du rêve et du réel en intégrant aux sujets photographiés une dimension à la fois radicalement factuelle, et très esthétique. Cette approche à la maîtrise impeccable n’a pas échappé aux visiteurs de l’exposition [Contre]culture.ch à laquelle le Musée de l’Elysée a eu le privilège de l’associer en 2011.
La disparition de cet homme aux multiples talents laissera un grand vide dans la vie de celles et ceux qui l’ont connu. Les collaborateurs du Musée de l’Elysée et moi-même pensons sincèrement à vous et à votre famille en cette période de deuil, et nous vous présentons nos plus sincères condoléances.
Tatyana Franck
Directrice
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Es ist wunderbar, daß dank Eurer Zusammenarbeit ein großes Werk der Schweizer Photographie gesichert und zugänglich gemacht werden konnte. Da dieses Werk in guten Händen ist, wird es auch weiterhin gewürdigt werden können, dessen bin ich mir sicher.
Dr. Peter Pfrunder
Fotostiftung Schweiz, Winterthur
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Seit über zwanzig Jahren dürfen wir das photographische Werk unseres verehrten Künstlers Arnold Odermatt begleiten und vertreten. Wir schätzen ihn nicht nur für seine herausragende Arbeit, sondern werden ihn als herzlichen, humorvollen und empathischen Menschen vermissen.
Wir blicken zurück auf viele Jahre voll gemeinsamer Abenteuer, großer Erfolge und wichtiger Ausstellungen, die uns mit Arnold Odermatt, Urs Odermatt, Jasmin Morgan, Alexandra Schild und Beate Kemfert als „Odermatt-Familie“ zusammenschweißten. Viele schöne Freundschaften sind entstanden – er ist ein Vorbild für unsere Künstler. Dankbar für das stete Vertrauen, das er uns entgegenbrachte, wird er künftig als großer Freund unsere Gedanken begleiten.
Heide & Robert Springer
Galerie Springer, Berlin