Urs Odermatt Arnold Odermatt The Odermatt Channel The Odermatt Shop Nordwest Film AG, alte Spinnerei 1, 5210 Windisch, Schweiz, +41 56 442 95 90, mail@nordwestfilm.ch Theater Stück Dramaturgie Inszenierung Presse Photos

Thema

 

Das Stück bezieht sich auf zwei aktuelle gesellschaftliche Themen. Es exemplifiziert einerseits Dynamiken sozialer Ausgrenzung am Beispiel einer dörflichen Solidargemeinschaft und spürt andererseits unterschiedliche Facetten rund um das Thema des sexuellen Übergriffs auf.

 

Wird dörfliches Leben landläufig mit einer Solidargemeinschaft assoziiert, wo Hilfsbereitschaft, freundschaftliche Nachbarschaftsbeziehungen und emotionale Bindekräfte noch vorhanden sind, wo Vertrautheit anstatt Anonymität vorherrscht, wo ein Klima der Wärme und Mitmenschlichkeit zu finden ist, so sehen einige in einer solchen Gemeinschaft intakte Überreste und utopische Restbestände einer ehemals funktionierenden Gesellschaft. Diese – so eine beliebte Version der Gegenwartsdiagnose und der Gesellschaftskritik – ist einer eisig kalten Gesellschaft gewichen, die mit einer zunehmenden Entsolidarisierung, mit Rücksichtslosigkeit, Härte und Gleichgültigkeit einhergeht, in der ein jeder sich selbstsüchtig seinen eignen Interessen widmet. Als Prototyp wird an die moderne Stadt gedacht.

 

Diese Zeitdiagnose vergißt allzu oft die Schattenseiten einer solcherart idealisierten Vergemeinschaftungsform. Daß diese einhergeht mit einer klaren Festlegung der Zugehörigkeit und somit mit einer Abgrenzung gegen außen, zum Rest der Welt, ist bloß die Kehrseite derselben Medaille. Der Preis einer engmaschigen Vergemeinschaftung stellt im Extremfall eine Planierung jeglicher Individualität dar. Jedes Abrücken von gängigen Normen wird mit Ausgrenzung sanktioniert, alles Fremde und Andersartige abgelehnt. Der Zwangscharakter einer Gemeinschaft offenbart sich in dem Moment, in dem Einzelne die kollektive Ordnung zu erschüttern versuchen. Eine besondere Fasson derselben Mechanismen zeigt sich zudem auch in jenen Gemeinschaften, denen die Freiheit zum Austritt kaum innewohnt, wie dies von Kindern und Jugendlichen in Bildungsinstitutionen erlebt wird und wo Ausgrenzung besonders unerbittlich greift.

 

Nicht die negativen Aspekte einer modernisierten Gesellschaft werden in diesem Stück thematisiert, ausgeleuchtet werden vielmehr die Schattenseiten einer ländlichen Dorfgemeinschaft, einer intakten Ordnung sozusagen, deren Zwangscharakter sich aber niemand zu entziehen vermag.

 

Der Stoff des Stücks lehnt an ein weiteres aktuelles und delikates Thema an, an jenes des sexuellen Übergriffs auf Minderjährige. Er verwahrt sich jedoch dagegen, eindimensional als Wortführer einer der kontrahierenden Interessenvertreter zu fungieren – die der Opfer oder der unschuldig Verurteilten – und leuchtet unterschiedliche Facetten der Problematik gekonnt aus. Durch den cleveren Schachzug, die Hauptfigur schuldig unschuldig eine Strafe absitzen zu lassen, verwahrt sich das Stück sowohl gegen eine moralische Freisprechung Armins wie auch gegen eine einseitige Verfemung der Falschanschuldigung einer Jugendlichen.

 

 

Struktur

 

Schauplatz ist ein Dorf in der Schweizer Provinz, ein sexueller Übergriff das Motiv, auf dem aufbauend der Rachefeldzug, der Kampf der Heldin um vermeintliche Gerechtigkeit gedeiht. Eröffnet und gerahmt wird durch eine der Schlußszenen, womit bereits zu Beginn ein Spannungsmoment erzeugt werden kann: die beiden Schwerverbrannten Trix Brunner und Frau Fricker sind dazu verdammt, im gleichen Zimmer eines Spitals – einer Art Vorhölle – endlos repetitiv zu dialogisieren, sich anzufehden; stimmlos, gedanklich bloß.

 

Das Publikum wird daraufhin entführt auf eine rasante Fahrt durch ländliche Verschrobenheiten. Wie Puzzlestücke reihen sich Szenen zu einem Bilderbogen, der Einsicht verleiht in Dynamiken gemeinschaftlich-solidarischen Zusammenhalts und sozialer Ausgrenzung. Mittels exaltierter Zwischenfälle wird dem Stück eine absurd komische Note verliehen.

 

Die Hauptkonfliktlinien werden parallel etabliert. Wir erfahren vom Zwist der pubertierenden Saskia mit ihrer Mutter, der sich in Beschimpfungen und gegenseitigen Anfeindungen äußert; verfolgen die strammen Praktiken des Turnlehrers Armin im Sportunterricht, welche alternieren zwischen militärischem Drill und sexueller Zudringlichkeit. Nach einem vermeintlichen sexuellen Übergriff Armins auf ihre Tochter nimmt Trix Brunner den Kampf um Gerechtigkeit auf, stößt jedoch allenthalben auf taube Ohren. Selbst der Journalist Koniecka, ein ehemaliger Freund, kann ihre moralische Empörung nicht teilen.

 

Das Stück flicht gekonnt surreale Stilelemente ein, wie etwa den Dialog des toten Dr. Jacobi mit Saskia, welche beide der Beerdigung von Dr. Jacobi beiwohnen, als Zuschauer, als Außenstehende; oder welche als Beobachter ein Geschehen kommentieren, wie etwa die Tötung des Papageis. Solch erzählende Elemente lösen den Zuschauer aus dem aktuellen Geschehen heraus und flechten einen Moment der Reflexion in die Szenerie, wo Begebenheiten nachgesonnen wird, wo Motive ergründet werden, wo der legere Ton erzählerischer Gleichgültigkeit kontrastiert mit der Absurdität und Schonungslosigkeit der Ereignisse.

 

An das Publikum gerichtete Mono- und Dialoge werden im szenischen Ablauf vor aktuelle Ereignisse gesetzt. Sie wecken unsere Neugierde, leiten stilsicher über zum nächsten Geschehen und flechten spielerisch Wortgefechte und Parallelitäten zu den Ereignissen ein.

 

Trix Brunner gewinnt ihren Kampf. Sie verliert dabei ihr Leben oder was man als solches bezeichnen könnte, sie opfert ihren Verbündeten, Dr. Jacobi, der den schikanösen Spielen von Armin nicht standhält, und sie verliert ihre Tochter Saskia, welche sich, psychisch in desolatem Zustand, als Opfer ihres Kampfwillens sieht – in der letzten Szene begleiten wir das Gespräch zwischen ihr und ihrer Freundin Nadja im Sanatorium. Die Gewißheit allerdings, „wenn man beliebt ist, kann man sich alles ungestraft erlauben“, mit der sich Armin dreist durch das Stück hangelt, wird am Schluß außer Kraft gesetzt. Armin sitzt – für das falsche Verbrechen zwar – für drei Jahre hinter Gitter, als schuldig Unschuldiger.

 

Stück für Stück tasten wir uns entlang der Verschachtelung von Szenen vor zum erzählten Handlungsstrang, vor- und zurückgeworfen in der Abfolge der Ereignisse. Eine chronologische Erzählstruktur wird vermieden, gespielt wird mit zeitlichen Versetzungen.

 

 

Figuren

 

Die gelungene Figur des Sportlehrers Armin verleiht dem Stück eine schalkhaft spritzige Note. Ein athletisches Mannsbild, infam, forsch, ruchlos, schmissig, verwegen und selbstverliebt, von den einstigen Lorbeeren seines sportlichen Erfolges zehrend und im Dorf zur Ikone stilisiert, ergötzt er sich an den blühenden Körpern seiner jungen Schülerinnen, die Grenzen des Statthaften skandalös und schmählich überschreitend. Die Figur ist ausdrucksvoll lebendig entworfen und erhält ihre Kontur in ihrer konsequent unreflektierten Lüsternheit und Niedertracht. Seine Devise, „ wenn man beliebt ist, kann man sich alles ungestraft erlauben“, scheint so lange zu funktionieren, bis sich Trix Brunner einmischt. Als selbständige und starke Frau, der ihr Außenseiterstatus im Dorf nicht viel auszumachen scheint, steht sie für ihre Rechte ein und lehnt sich spitzzüngig und beharrlich bis starrsinnig auf gegen die Omnipotenz Armins, gegen das Schweigen im Dorf. An ihr als Dorffremden wie an Dr. Jacobi als Ansässigen zeichnet sich die soziale Ausgrenzung als ein Leitmotiv des Drehbuchs ab. Bleiben auch die Motive des Rachefeldzugs von Trix Brunner ausgerechnet an Frau Fricker ebenso wie die Unterstützung durch Dr. Jacobi noch etwas vage, wirkt die Figur dennoch greifbar und wirklichkeitsnah.

 

Saskia als weitere Hauptfigur wird durch ihre Wechselhaftigkeit in den Gefühlslagen zu einer Identifikationsfigur für Mädchen in der Pubertät. Differenziert und schonungslos gezeichnet, schwankt sie zwischen herbem Haß auf die Mutter und die Welt und Gefühlen von Verletztheit und Einsamkeit. In der Phase der Identitätsfindung kämpft sie zusätzlich mit ihrem Ausschluß aus der dörflichen Gemeinschaft und benutzt die Anschuldigung des sexuellen Übergriffs als phantasiertes, herbeigesehntes Zeichen sozialer Zugehörigkeit.

 

 

Dialoge

 

Das Stück hört sich einnehmend an, kurzweilig und berauschend. Schlagfertige Dialoge sind sein Markenzeichen. Angeschlagen wird eine saloppe bis verruchte Tonart, fast magnetisch durchsexualisiert in fast allen Szenen und Nebenszenen. Ein rasantes Tempo, schnelle Szenenwechsel, gekonnte Wechsel der Schauplätze verleihen der Geschichte insbesondere in der zweiten Hälfte eine treibende Dynamik.

 

Erzählende, an den Zuschauer gerichtete Elemente sind exzellent gesetzt und unterstützen wirkungsvoll die Charakterzeichnung der Figuren und den Fortgang des Geschehens. Gespielt wird mit irrealen Elementen, wo sich Wirklichkeit und Fiktion verschieben, wenn sich beispielsweise in der Szene von Dr. Jacobis Selbstmord ein Radiosprecher Bezug nehmend auf dessen Monolog äußert. Stimmen aus dem Off nehmen Bezug zu aktuellen Passagen, mischen sich ein, reflektieren.

 

Mit viel Humor werden zweideutig eindeutige Passagen eingeflochten. Zwanglos und unzimperlich wird jedwelche Gelegenheit genutzt, Mehrdeutigkeiten auszuloten, frivole, knisternde, schamlose Wortgefechte entstehen zu lassen.

Dr. Nicoline Scheidegger

Lektorat

Institute for Organization and Administrative Science, Universität Zürich, Zürich 2006

Bundesweit wurden im vergangenen Jahr 15’581 Fälle von sexuellem Mißbrauch angezeigt, die Dunkelziffer liegt aber viel höher. In Baden-Württemberg sind im selben Zeitraum rund 2’500 Fälle bekannt geworden. Die Problematik ist bekannt, doch sprechen tun nur wenige darüber. Sexueller Mißbrauch von Abhängigen gibt es in städtischen Metropolen ebenso wie in ländlichen Gebieten, er ist im Osten genauso verbreitet wie im Westen. Je näher der Täter der Person steht, desto schwerer fallt es Betroffenen, ihn anzuzeigen.

 

Sexueller Mißbrauch passiert nie aus Versehen, sondern ist geplant und findet in der Regel nicht nur einmal statt. Das Verbrechen lauert überall, es kommt auch und gerade in den so genannten besseren Kreisen vor. Der Schweizer TV-Regisseur (Tatort) Urs Odermatt und Mari Moén, die für Regie und Dramaturgie verantwortlich zeichnen, haben sich mit der Inszenierung von Der böse Onkel eine mutige und ziemlich schwierige Aufgabe gestellt. Sie wagten sich an ein Thema, das auch heute noch eher tabuisiert und totgeschwiegen wird: Sexuelle Belästigung von Abhängigen innerhalb eines Schulsystems.

 

Spielort des Geschehens ist eine deutsche Kleinstadt. Deren Bürger sind stolz auf ihren Sportlehrer, der nicht nur allseits beliebt und geachtet ist, sondern dazu noch ehemaliger Olympiateilnehmer und Landesmeister war. Kaum vorstellbar, daß ein solches Paradebeispiel eines ehrenwerten Bürgers seine minderjährigen Schülerinnen sexuell belästigt. Zumindest völlig abwegig für die Eltern und Gemeindebewohner. Anders sieht das die alleinerziehende Mutter Trix Brunner, die mit ihrer Tochter Saskia erst seit kurzem in der Stadt lebt. Die Zugezogene versucht nun, die Geschichte um den Sportlehrer Armin, den die Schülerinnen liebevoll Onkel nennen, aufzuklären und trifft dabei von allen Seiten auf Ablehnung.

 

So die Rahmenhandlung von Urs Odermatts Stück, das ursprünglich als Hörspiel geplant war. Bei der gut besuchten Matinée versuchten  Regisseur und Schauspieler mit Hilfe von verschiedenen Texten und kurzen Rollenspielen, Macht- und Verliererstrukturen aufzuzeigen und die Verdrängungsmechanismen der Gesellschaft zu entlarven. „Sexueller Mißbrauch kann in allen Berufsgruppen und Schichten vorkommen“, so der Regisseur, „nur wird dieses Thema besonders in geschlossenen Gesellschaften häufig tabuisiert“.

 

Odermatt wollte kein Sozialdrama schreiben, sondern mit den Mitteln des Kriminalautors eine Geschichte schildern: „Mich interessieren die Tätermotive. Mein Ansatz, solch ein Stück zu schreiben, ist das Dramatische, Moralische.“ Die 90minütige Matinéeveranstaltung sorgt jedenfalls für Diskussionsstoff und macht neugierig auf das Theaterstück. „Ich mache im Theater alles das, was ich fürs Fernsehen nicht machen kann“, meint Urs Odermatt zu seiner bevorstehenden „Tonne“-Première.

Jürgen Spiess

All das, was ich fürs Fernsehen nicht machen kann

Reutlinger Nachrichten, 19. April 2002

 

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„Es geht um das Leben, und es geht um Sex. Es ist lustig, traurig, brutal und demütigend“, sagt Gastregisseur und Autor Urs Odermatt über Der böse Onkel. Am Reutlinger „Tonne“-Theater wird das Stück am 27. April uraufgeführt. „Und deshalb wird es rammelvoll werden", meint der Schweizer, der kein Unbekannter ist: (...) Zwischendurch war er immer wieder am Theater tätig, inszenierte unter anderem 1993 in Halle Max Frischs Andorra. Damals war der heutige „Tonne“-Intendant Enrico Urbanek sein Assistent, der ihn deshalb überreden konnte, hier in Reutlingen ein eigenes Stück zu inszenieren.

 

Kurz, der Schweizer arbeitet gern an verschiedenen   Projekten:   Es   sei  toll, mal mit vielen Menschen zusammenzuarbeiten,  dann für sich allein zu sein und zu schreiben. Weil er unabhängig sei, könne er machen, was er wolle, und es sei eine  Herausforderung, sein eigenes Stück zu inszenieren, das mit  acht Schauspielern eine vergleichsweise aufwendige Produktion an der „Tonne“ werden wird. Eigentlich wäre Der böse Onkel als Hörspiel zeitgleich mit der Reutlinger Uraufführung im Schweizer Rundfunk gesendet worden. Aber das Radio hat wohl kalte Füße bekommen, „die wollten eher ein      schülertaugliches Sozialdrama“. Dem sei  nicht so, und so wurde es bislang noch nicht produziert. Denn Der böse Onkel, der laut „Tonne“-Dramaturg Carl-Herbert Braun in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt inszeniert wird, zeige durchaus mehrere „Verstöße gegen die political correctness“, so der Autor. Thema des Stücks ist der Umgang mit dem Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs im Biotop Dorf: Trix Brunner ist mit ihrer Tochter vor Jahren  von der Stadt aufs Land gezogen. Nun beschuldigt sie den Sportlehrer Armin, einen ehemaligen Landesmeister, ihre Tochter sexuell belästigt zu haben. Das gesamte Dorf ist empört ‒ nicht über den Sportlehrer, sondern über die Mutter.

 

Selbst die Schulpflegepräsidentin, bei der Trix Brunner um Hilfe bittet, stellt sich hinter den Lehrer und gegen die Einzelkämpferin: „Warum leben Sie eigentlich nicht da, wo Sie hingehören?“ Ein klares Opfer-Täter-Schema. Als politisch unkorrekt kann das Spiel mit diesen Rollen ausgelegt werden. Bei Odermatt herrscht zwischen Tätern und Opfern eine Grauzone. Es gibt keine eindeutige Zuordnung: Die Tochter habe selbst „Dreck am Stecken“, und der „böse Onkel“  sei eigentlich „ganz nett“. „Im Leben ist alles nicht immer so eindeutig“, meint der Autor. In den USA würden Scheidungsanwälte ihren Klienten zum Mißbrauchvorwurf raten, damit die gerichtliche Trennung schneller über die Bühne gehe.

 

Odermatts Markenzeichen? Während Film über Illusion und Suggestion funktioniert, arbeite er für die Bühne mit „Behauptung und Abstraktion“. Das heißt, das Bühnenbild ist reduziert auf wenige Elemente: Es soll die Szene nicht „zumüllen“. Die Schauspieler haben nur sich, ihre Hände, ihre Sprache, ihre Mimik. Spannend bleibt die Arbeit am Stück allemal, denn das Hörspiel ist bisher nur ein Rohentwurf, an dem noch bis zur Tonne-Première gearbeitet wird.

Kathrin Kipp

Es geht um das Leben

Reutlinger Nachrichten, 23. März 2002

Der böse Onkel von Urs Odermatt