Mit Urs Odermatt (38) arbeitet derzeit wieder ein Regisseur an der Reutlinger „Tonne“, der eigentlich größeres und besserdotiertes gewohnt ist. Erneut ist das den persönlichen Kontakten von „Tonne“-Intendant Enrico Urbanek zu verdanken. Urbanek war 1993 Odermatts Assistent am Neuen Theater Halle und kann dem Schweizer Film- und Theatermacher nun die Möglichkeit bieten, ein eigenes Stück selbst uraufzuführen. Es heißt Der böse Onkel und greift das Thema des sexuellen Mißbrauchs in einer engen Provinzgesellschaft auf. Première ist am 27. April. Er schätze es sehr, bekräftigt Odermatt, daß er in der „Tonne“ „eigenverantwortlich mit guten Schauspielern, die ich mitbringe, arbeiten kann.“
Seine auf eigenen Drehbüchern beruhenden Spielfilme sind immer wieder im Fernsehen zu sehen; einige werden am 20. April auch in der „Tonne“-Filmnacht gezeigt. Mit Uwe Ochsenknecht drehte er beispielsweise Rotlicht!, viel beachtet wurden Gekauftes Glück mit Mathias Gnädinger und Wachtmeister Zumbühl mit Michael Gwisdek. Mit Suzanne von Borsody und Ernst Jacobi in den Hauptrollen entstand Zerrissene Herzen. Auch ein Tatort ist von ihm.
Film oder Theater, was ist ihm lieber? „Keine Wertung, keine Bevorzugung“, wehrt er ab. Beides hat seinen Reiz und seine Vorteile – und vom Austausch könne man sehr viel profitieren. Der böse Onkel ist ursprünglich ein Hörspiel, entstanden als Auftragsarbeit über Mißbrauch für das Schweizer Radio. Doch war das Ergebnis offenkundig nicht wunschgemäß und wurde „zurückgestellt“, denn Odermatt hatte nicht das erwartete „Opferstück“ geschrieben, sondern den Täter in den Mittelpunkt gestellt: „Täter interessieren mich viel mehr, sie sind die interessanteren Figuren, auch wenn ich privat auf der Seite des Opfers bin.“ Die Faszination des Bösen wirkt.
„Ich bin neugierig, was hier passiert bei der Première“, sagt Urs Odermatt. Es sei ja im Theater – zumal in unmittelbarer Nähe zu den Zuschauern, wie im „Tonne“-Keller – ganz anders als im Fernsehen, „wenn man freche, böse, abgründige Dinge zeigt“. Und die werde es geben, verspricht Odermatt: „Das Stück flirtet mit den Grenzen des guten Geschmacks. Es macht eine Gratwanderung zwischen politisch korrekt und unkorrekt“.
Monique Cantré
„Die Täter interessieren mich“ – Film- und Theaterregisseur Urs Odermatt arbeitet in Reutlingen
Reutlinger General-Anzeiger, 12. April 2002
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Die Notiz in der NZZ irgendwann im Herbst vergangenen Jahres verkündete, daß das Atelier des Kantons Zürich in Berlin künftig auch dramatisch schreibenden Autoren zur Verfügung stehe – wer schon einmal ein Drehbuch, ein Theaterstück oder ein Hörspiel geschrieben habe, sei zur Bewerbung höflich eingeladen; diese Notiz hatte mich angeregt, mich zu melden. Mit dem Vermerk, daß sich in meinem Falle das oder durchaus durch ein und ersetzen ließe und der bangen Ahnung, kaum war der Brief auf der Post, daß diese Bemerkung – Bescheidenheit ist eine Zier, bei Autoren besonders gern gesehen – sich etwas forsch anhören könnte. Die Sorge war vergebens: In den Monaten April, Mai und Juni durfte ich im Schreibloft an der Schönhauser Allee wohnen, in der wohl schönsten Jahreszeit für Prenzlauer Berg.
Es ist eine erfrischende Erfahrung, zu sehen, wie während Jahren gepflegte Vorurteile zerbröseln, wenn man sich die Mühe nimmt, sie genauer zu prüfen. Eines meiner uralten Vorurteile war, daß wir Schweizer mit dem Stigma der Diglossie im bilateralen Kontakt mit schnellsprecherischen Berlinern stets den Kürzeren ziehen. Heute weiß ich: Kein Wort davon ist wahr. Es sei denn, man zählt streng nur die gemeine Zahl der Wörter. Zählt man aber vielmehr die Worte, oder – durchaus in Erwägung zu ziehen – den reinen Austausch von Sinn und Nutzen, merkt man mit etwas Übung, daß kurzes Nachdenken vor dem Sprechen kein unüberwindbarer Standortnachteil sein muß. Wer das Vergnügen hatte, in Berlin mit konkretem Ansinnen ein Amt, eine Bank, eine Post, eine Theaterkasse oder gar ein Ladengeschäft zu beehren, wundert sich im Nachhinein über die stoische Effizienz, mit der solche Aufgaben selbst in Bern in kürzester Zeit gelöst werden. So empfehle ich das bedächtige Berlin jedem streßgeplagten Schweizer für ein paar Wochen als verjüngende Kur: Weg aus dem problemlöserischen Zürich und hinein in die problemaussitzerische deutsche Hauptstadt. Man kommt als anderer Mensch nach Hause und spart sich die Reise nach Indien.
Damit meine Liebeserklärung an Berlin nicht allzu blind wird, sei erklärend nachgeschoben: Natürlich ist die neue deutsche Hauptstadt eine europäische Metropole, wie sie nur mit London oder Paris zu vergleichen ist. Das kulturelle Angebot Berlins im Vergleich zu Zürich verhält sich wie das Vollbad zur Katzenwäsche, wobei ich die meiste Zeit des Lebens schon mit der hiesigen Kulturmeile in terminliche Atemnot komme. Der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich ist es hoch anzurechnen, daß sie uns Autoren mit dem Atelier ermöglicht, drei Monate der schönen kleinen Welt an der Limmat zu entfliehen und Großstadtluft zu schnuppern. Wer schreibt, arbeitet mit der Sprache. Auch wenn mir das Modell Schweiz teuer und wichtig ist, schätze ich den Gedanken, neben unserer nationalen Landeshauptstadt eine sprachliche Hauptstadt zu haben. Drei Monate in der deutschsprachigen Hauptstadt Berlin, in einem Atelier, glücklicherweise in urbaner Kargheit eingerichtet, die den Gedanken Platz läßt; dies in einem Stadtteil, der inspiriert wie kaum ein zweiter – das ist ein Kreativitätsschubser, der sich nicht mit Geld bezahlen ließe.
Ich habe den Aufenthalt im Zürcher Atelier in Berlin genutzt, um eine Theaterstückidee, die ich seit einiger Zeit mit mir schleppe, zu entwickeln. Der Stoff heißt Der böse Onkel und erzählt die Geschichte einer alleinerziehenden Mutter, die vor Jahren aus der Stadt ins Dorf gezogen ist und einen Sportlehrer beschuldigt, er habe ihre Tochter sexuell belästigt. Das ganze Dorf ist empört – über die Mutter, die solches behauptet. Schließlich ist der Beschuldigte ein ehemaliger Landesmeister. Am Anfang lief die Arbeit schleppend – Schreiben in einer Stadt mit so maßlosem Ablenkungsbudget fordert noch mehr Disziplin als Schreiben dies immer tut. Welcher Autor wüßte das nicht? Aber Schweizer Tugenden greifen auch im Ausland: Ich habe den Tag – nach Dienstplan – so eingeteilt, daß ich morgens neue Kontakte knüpfte und alte pflegte (die berühmten Berliner Frühstücksorgien), nachmittags schrieb und mich abends im kulturellen Angebot suhlte, das in meinem Fall vor allem Theater und Kino hieß.
Da mich das Angebot eines befreundeten Intendanten, das in Berlin geschriebene Stück Der böse Onkel im kommenden Frühjahr im Theater „Die Tonne“ in Reutlingen zu inszenieren, ebenfalls in der Schönhauser Allee erreichte, ist mein Aufenthalt im Atelier des Kantons Zürich eine rundum geglückte und erfolgreiche Sache, die mir in Zukunft schöne Ernte sichern wird. Der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich ein herzliches Merci!
Urs Odermatt
Atelier des Kantons Zürich für Literaturschaffende, Berlin, 1. April bis 30. Juni 2001
Tätigkeitsbericht der Fachstelle Kultur
Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich
Trix Brunner
Haben Sie Kinder? Nein? Gut. Schaffen Sie sich einen Hund an, wenn Ihnen etwas fehlt. Selbst ein Kampfhund macht weniger Streß als diese Göre. Und Sie? Nehmen Sie die Pille. Treiben Sie ab. Wenn Sie katholisch sind, setzen Sie Ihren Mann auf französisch. Aber machen Sie bloß nicht meinen Fehler. Früher habe ich auch anders geredet. Kinderhorte. Mutterschaftsurlaub. Internationaler Frauentag. Kinderfreundliche Gesellschaft. Wer Kinder schlug, war Klassenfeind. Und jetzt? Jetzt schlage ich meine Tochter. Und ich weiß, es war nicht das letzte Mal.
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Das Biotop „Dorf“ – oder die Schweizer Provinz – ist Spielort des Geschehens. Ein Dorf auf dem flachen Land, wo jeder jeden kennt, und jeder über jeden alles weiß. Trix Brunner, eine alleinerziehende Mutter, ist vor Jahren von der Stadt aufs Land gezogen, damit ihre Tochter Saskia in einer intakten und gesunden Umgebung groß werden soll. Nun beschuldigt sie Armin, den Sportlehrer ihrer Tochter, er habe Saskia sexuell belästigt. Das ganze Dorf ist empört – über die Mutter, die, noch dazu als „Zugezogene“, so etwas behauptet. Schließlich ist der Beschuldigte überall beliebt und genießt als ehemaliger Landesmeister im Turmspringen hohes Ansehen und die uneingeschränkte Solidarität der Dorfgemeinschaft. Trix Brunner nimmt trotzdem den Kampf einer gegen alle auf.
In seinem Stück entlarvt Urs Odermatt mit klarem Blick die vielfältigen Verdrängungsmechanismen der Gesellschaft. Dabei verbinden sich mehrere Themen: zum einen „sexueller Mißbrauch von Abhängigen innerhalb des Schulsystems“, zum anderen der sich verschärfende Konflikt zwischen Mutter und der heranwachsenden Tochter (diese will trotz allem in die dörfliche Gemeinschaft integriert werden) und schließlich das Thema des Außenseiters, der gegen ein hermetisches Gesellschaftssystem ankämpft.
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Trix Brunner
Ich will nicht über andere schreiben. Ich will, daß du über mich schreibst.
Koniecka
Dein Leben?
Trix Brunner
Meinen Kampf.
Koniecka
Dein Stalingrad.