Thomas Bernhards experimentelle Situation: In einer Theatergarderobe warten zwei Männer auf eine Frau. Einer der Männer, der Doktor, ist offenbar Arzt, Pathologe, Verehrer und vielleicht auch Liebhaber der Frau, erzählt dem anderen, der ihr Vater ist, mit Präzision die Vorgänge einer Leichensektion. Der Vater hört zu, er ist erblindet, vertreibt sich die Wartezeiten mit dem Trinken von Alkohol. Die Frau ist eine weltberühmte Sängerin, zum 222. Mal wird sie heute die Partie der „Königin der Nacht“ in der Zauberflöte singen. Die Nerven der Sängerin sind zum Zerreißen gespannt, zwischen Ruhm und Überdruß, Professionalität und Publikumsverachtung, Gier und Ekel verzweifelt sie. Der Doktor diagnostiziert das künstlerische Genie als Krankheit, die „Koloraturmaschine“ Sängerin in der Hölle des Theaters, speziell der Oper, ist eine extreme Degenerationserscheinung des Lebens. Auch beim Nachtessen im Restaurant, die Vorstellung war naturgemäß ein Triumph, ändert sich nichts, die „Königin der Nacht“ verlangt, nunmehr alles abzusagen. „Wenn wir den Schwachsinn, der in dieser Kunstgattung herrscht, geehrter Herr, mit der Gemeinheit der Zuschauer verrechnen, kommen wir in den Wahnsinn, und zur Ignoration, geehrter Herr, sind wir zu intelligent“.
Betrachtet man das Gesamtwerk von Thomas Bernhard, die Prosa seit etwa 1963, dem ersten erfolgreichen Veröffentlichen, und die Theaterstücke seit 1970, so zeigt sich die Thematik in einer schriftstellerisch ungeheuer reichen Vielfalt doch als sehr einheitlich. Das Leben wird als Krankheit zum Tode gesehen, ganz im Sinne des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, der diesen Begriff prägte. Leben ist durch Entwicklung und Altern naturgemäß ein Ver- und Zerfallsprozess, jede Entwicklung ist im Kern eine Krankheit, deren unausweichliches Ziel der Tod ist. Die Verfaßtheit des Menschen ist also die der permanenten Todesangst. Auch die Kunst ist eine Krankheit, also eine Abweichung, die letztlich zur Zerstörung führt. Aber ob die Koloraturen einer „Königin der Nacht“ oder der Borkenkäferfraß (in Jagdgesellschaft) am zerstörerischen Werke sind, bleibt sich eins. Ob höchste Geistigkeit wie Mozarts Musik, oder niederster Verfaulungsprozeß, alles ist Elend. Vor allem auch deshalb, weil es nichts gibt, von dem aus diese Abweichungen hergeleitet werden könnten, es gibt keine Mitte der erstrebenswerten Normalität in dieser Welt, an der irgendetwas gemessen werden könnte. Hier liegt das unlösbare Rätsel der Bernhardschen Kunst, die unheilbare Wunde seines Leidens. Als Musiker komponiert Bernhard seine Sprache artifiziell. Als Dramatiker erschafft er emotional Hysterisierte, übersensible Kunstfiguren, die in einem psychischen Labor, also auf dem Theater, in ihrer Menschenähnlichkeit geprüft werden. Als Philosoph ist Bernhard besessen von der Problematik des Todes und der Frage, wie wir als Menschen im Bewußtsein unserer Endlichkeit, in der Konfrontation mit unseren Ängsten überhaupt leben können. So zeigt sich, daß die Sängerin als Koloraturmaschine, der Doktor als leidenschaftlicher Verbalisierer der Leichenöffnung, der Vater als unbeirrbarer, blinder Trinker allesamt präzise entworfene Metaphern sind für Angst und Fluchtversuche aus dieser Angst. Der Blick ins Innere des Menschen, den die Sektionsbeschreibung des Doktors gewährt, ist zentral und wird ganz wörtlich genommen als Autopsie, und er wird zugleich ganz symbolisch für die Öffnung des poetischen Blicks ins seelisch Innere, ins dunkelste Herz des Menschen. Wer aber den Abgrund der Psyche ignoriert, den straft der Wahnsinn!?
Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Lösung der theatralen Versuchsanordnung eines Thomas-Bernhard-Stücks aus der realistischen Bebilderung als einer nachzuerzählenden Geschichte. Der Raum wird symbolisch, die Erzählstruktur parabolisch. Die Funktion der Angst und ihre tiefenpsychologischen Bedeutungen stehen im Vordergrund. Der Satz: „andererseits kommen wir gerade in den Angstzuständen zu uns selbst“, wird zum Zentrum: Die theatralen Bilder zeigen innere Vorgänge als äußere, übersetzen psychische Vorgänge in Körpersprache. Ignoranz und Wahnsinn erscheinen als die beiden Fluchtmöglichkeiten vor den Angstzuständen, die uns auf den Kern der Persönlichkeit verweisen. Dichter und Philosoph sind sicher dem Pole des Wahnsinns näher, aber der einzig mögliche Fluchtpunkt aus dem Dilemma Leben bleibt die Kunst, die Musik in Tönen und auch in Worten.
Georgia Eilert
Programmheft „Der Ignorant und der Wahnsinnige“
Oldenburgisches Staatstheater, Oldenburg 2001
Königin der Nacht
Absagen. Absagen. Wir müssen alles absagen. In Zukunft alles absagen. Verstehen Sie? Wir sagen in Zukunft alles ab. Nicht wahr, Doktor, wir sagen zukünftig alles ab. Früher haben wir überall teilgenommen. Jetzt sagen wir alles ab. Wir gehen nirgends mehr hin. Wir haben schon alles gesehen. Alles gehört. Uns ist alles auf der Welt vertraut. Wir kennen sie. Wir brauchen nichts mehr. Nichts. Nichts. (markiert eine Koloratur) Wir haben schon alles gehört. Wir haben schon alles gesehen, (markiert eine Koloratur, zum Vater) nicht wahr? Wir kennen alles. Uns ist alles bekannt. Wir kennen alle Opern, alle Schauspiele. Wir haben alles gelesen, und wir kennen die schönsten Gegenden auf der Welt. Und insgeheim hassen wir das Publikum, nicht wahr, unsere Peiniger. (markiert eine Koloratur) Wir treten auf und verabscheuen, was wir kennen.
Doktor
Es liegt in der Natur der Sache.
Königin der Nacht
Sie haben recht, Doktor, es liegt alles immer in der Natur der Sache. Solange ich die Koloraturen herausbringe, trete ich auf (markiert eine Koloratur).
Doktor
Die zweifellos berühmtesten Koloraturen.
Die Königin der Nacht markiert eine Koloratur.
*
Königin der Nacht
(markiert eine Koloratur, zum Vater) Dieses Trinken. Und dieses Herumreisen. Dieses fortwährende, beiderseitige Zusammensein muß ein Ende haben. (markiert eine Koloratur, zum Doktor) Mein Vater ist ein völlig heruntergekommener Mensch. (markiert eine Koloratur) Weil ich nachgegeben habe. (markiert eine Koloratur) Weil ich schwach geworden bin und ihn, obwohl ich gewußt habe, wohin das führt, wieder mitgenommen habe auf meine Reisen. Nach Amerika. Und nach Australien. Der größte Fehler ist gewesen, daß ich ihn nach Skandinavien mitgenommen habe. (markiert eine Koloratur) Dort hat er sich das Trinken von Schnaps angewöhnt. Seither kein Tag mehr, ohne das unaufhörliche Trinken aus der Flasche (markiert eine Koloratur).
Doktor
Gewöhnlich nützt es nichts, wenn man einem Trunksüchtigen die Flasche entzieht, ihm die Möglichkeit nimmt, zu trinken. Einem Trinker kann man nicht helfen.
Die Königin der Nacht markiert eine Koloratur.