Die im erzählerischen Werk Thomas Bernhards immer wiederkehrende Metapher von der Welt als Bühne, auf der die Menschen ihre „Todesrolle“ spielen, wird hier vom Autor inhaltlich, formal und stilistisch konsequent in das Medium des Schauspiels transponiert. Die Absage an die Möglichkeit einer sinnhaften Existenz, ein zentrales Thema zeitgenössischer Literatur, entwickelt Bernhard auf originäre Weise, indem er dem Individuum eine energische Manifestation seines Existenzwillens im „naturgemäß“ scheiternden Versuch, eine Gegenwelt zu schaffen, zugesteht. Die Radikalität dieser pessimistisch-nihilistischen Weltauffassung, die letztlich auf den Stillstand der Geschichte zielt, hat für das Drama eine extreme Reduktion der szenischen Dynamik zur Folge: Die Figuren sprechen vorzugsweise in Monologen, in denen sie ihre Obsessionen ausbreiten und die den Stücken Bernhards den Charakter einer monotonen Sprechpartitur verleihen.
Die in zwei Teile gegliederte Handlung des Fünfpersonenstücks spielt unmittelbar vor Beginn der Vorstellung von Mozarts Zauberflöte in der Operngarderobe der Darstellerin der „Königin der Nacht“ sowie nach der Aufführung im Restaurant „Drei Husaren“. Der beinahe erblindete, seit dem Beginn der künstlerischen Laufbahn seiner Tochter dem Alkoholismus verfallene Vater der „berühmtesten aller Koloratursängerinnen“ wartet bereits zwei Stunden in Gesellschaft des „Doktors“ auf das Eintreffen der Sopranistin. Der Arzt, eine weltweit anerkannte Kapazität im Bereich der Anatomie, vertreibt dem immer nervöser werdenden Trunkenbold (er ist der „Ignorant“ des Titels, der Arzt der „Wahnsinnige“) die Zeit, indem er ihm detailliert die Sektion einer menschlichen Leiche erklärt; in seine Ausführungen flicht er Bemerkungen über Karriere und Kunst der „Königin der Nacht“, dem „vollkommen künstlerischen Geschöpf“ ein. Die Gerühmte ist ihm die Verkörperung seiner Überzeugung, daß Kunst, um ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden, radikal künstlich werden muß und damit den einzig möglichen Ausweg vor der Bedrohung durch das Zerstörerische der Natur bietet. Die Ouvertüre ist bereits intoniert, da betritt die Sängerin, eine gefühllose Marionette, die Garderobe, wird kostümiert und weiß geschminkt („das unterstreicht die Künstlichkeit“) und enteilt auf die Bühne. – Während des abendlichen Diners gewinnt die Künstlerin menschlichere Züge, in einer plötzlichen Aufwallung des Gemüts beschließt sie, ihre nächsten Termine abzusagen und in die Berge zu fahren. Der Doktor setzt indessen seine ausführlichen Erläuterungen zur Leichenöffnung und seine Reflexionen zum Verhältnis von Kunst und Natur fort. Dabei wird er immer wieder vom Husten der Sängerin unterbrochen, dem Symptom ihrer tödlichen Erkrankung. Nachdem der Doktor Leben und Kunst zu Ende seziert hat, senkt sich totale Finsternis auf die Szene, das Schlußwort hat das Kunstgeschöpf: „Erschöpfung. Nichts als Erschöpfung“.
Innerhalb von Bernhards monothematischen Stücken schlägt das Werk, ebenso wie das davor entstandene Ein Fest für Boris (1970), das erste der sogenannten „Salzburger Stücke“, einen grotesk-makabren Ton an: Ignoranz und Wahnsinn fungieren als Randmarken einer Existenzbetrachtung, die den Tod stets mitdenkt. Als einziges Mittel menschlicher Selbstbehauptung läßt der Autor künstlerische Perfektion gelten, die allerdings in ihrer absoluten Form nicht erreicht werden kann und daher das Scheitern impliziert. So birgt die exakte Mechanik der Koloraturmaschine bereits den Keim der Vernichtung in sich, die Heilkunde ist zur Obduktionslehre pervertiert, die Trunksucht führt zum völligen Erblinden. Das Motiv der totalen Finsternis – eine sinnstiftende Konstante in Bernhards Gesamtwerk – steht für die Ausweglosigkeit der menschlichen Existenz. Insofern kann der Skandal anläßlich der Uraufführung des Stücks – die Theaterleitung weigerte sich, die Notbeleuchtung im Zuschauerraum abzuschalten, das Stück wurde vom Spielplan der Salzburger Festspiele 1972 abgesetzt – als exemplarisch für das weitverbreitete Unverständnis gegenüber Bernhards Werk gelten.
Dr. Cornelia Fischer
Kindlers neues Literaturlexikon, München, 1988
Eine Opernsängerin singt ausschließlich die Rolle der „Königin der Nacht“ aus Mozarts Zauberflöte, das aber in den besten Opernhäusern der Welt. Ihr Vater, alkoholsüchtig und fast blind, begleitet sie auf ihren Tourneen. Vater und Tochter leben in einem gespannten, jedoch untrennbar symbiotischen Verhältnis.
Der Doktor steht zwischen dem Vater, der sich von seiner Tochter rücksichtslos behandelt fühlt, und der Tochter, die unter ihrem Künstlerdasein leidet. Der Doktor greift in seiner Eigenschaft als Naturwissenschaftler wie in einem Musikstück immer wieder sein Thema auf – ein Vortrag über den menschlichen Körper. Zugleich steht im Mittelpunkt der Gespräche der Künstler, der durch sein Genie dazu verdammt ist, vor den Menschen aufzutreten, der Gesellschaft an sich jedoch kritisch gegenübersteht. Eine Koloraturprimadonna, deren blinder Vater, die Garderobiere und ihr Arzt in der Extremsituation eines Opernabends und im weiteren Sinn des Lebens – die Handlung in Thomas Bernhards Bühnenstück ist bis aufs Äußerste verknappt, kürzelhaft entsteht eine Welt der Auflösung, der Sinnlosigkeit, der Anarchie, gebrochen durch die Gleichung der Kunst und der Medizin.
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Der Ignorant und der Wahnsinnige ist ein zweiaktiges Stück: der erste spielt „In der Oper“, der zweite „Bei den Drei Husaren“, einem Restaurant. Das Figurenensemble ist dem bürgerlichen Bereich entnommen – Arzt, Vater, Sängerin, Garderobiere, Kellner –, der Ort der Handlung ist auf zwei Innenräume beschränkt, die sich in derselben Stadt befinden, der zeitliche Rahmen erstreckt sich nur über wenige Stunden. Jedoch fehlt eine Handlung, denn das eigentliche Geschehen des Stücks vollzieht sich in seiner Sprache, nicht in äußerer Aktion. Bemerkenswert ist, daß im ersten Teil des Dramas bis zum ersten Auftritt der Königin 842 gesprochene Zeilen des Doktors lediglich 33 Zeilen des Vaters gegenüberstehen, wovon ein Großteil nur eine Wiederholung des vom Doktor Geäußerten darstellt. In Der Ignorant und der Wahnsinnige zeigt sich somit das für Bernhard typische Verhältnis von monologisierender Person und stummem Gegenüber.