Kemnitzers Stück ist ein Nachkriegsszenario.
Mein Arbeitstitel: Nach dem vierten Weltkrieg.
Die Frage: Was bleibt, wenn alles zerstört ist?
Asche. Verbrannte Erde. Das Wasser ist in Bewegung geraten. Kein Halten mehr. Schlammassen überrollen Städte. Dörfer. Häuser.
Der öffentliche Raum ist tot. Kein Lebensraum an der Oberfläche.
Aber (Über-)leben gibt es. Setzt sich durch und emigriert in den Schlamm. Die letzten Menschen kümmern zurückgezogen in den Slums an den Peripherien der nicht mehr vorhandenen Metropolen vor sich hin. Oder im Schlamm verwüsteter Südseeinseln.
Konsequenz ist die Reduzierung der Szene auf archaische Elemente – wie Wasser und Erde. Emigration in das pure Überleben.
Als letztes Relikt einer gemeinsamen Kommunikation ist das am Ende eines vergangenen Jahrhunderts erfundene Internet geblieben. Das Internet – als latent vorhandenes, dominierendes Tor zur Welt.
Das Datennetz schafft Transparenz – vermeintlich. Der dumpfe Schmerz über den Verlust der Gemeinschaft oder die Erinnerung, die vage an sie besteht, führt in einen Exhibitionismus, der dem Wunsch entspringt, wahrgenommen zu werden, eine Öffentlichkeit zu haben, die dem einzelnen versichert, daß er überhaupt existiert. Wir enträtseln uns auf schamlose Weise im Netz. Aber keiner nimmt den anderen wirklich wahr. Die Pervertierung der exhibitionistischen Vermarktung erzeugt Mißtrauen. Mißtrauen schafft Einsamkeit. Ein Teufelskreis. Jede Bewegung tritt auf der Stelle und verharrt im Vakuum. Entwicklung ist nur eine Täuschung.
Das Laufband als Entwicklungsraum oder vielmehr als Entwicklungsvakuum. Immer vorhanden – das Baby, fernab jeglicher Naivität.
„Und Hawaii? – Wird ewig rufen.“
Dirk Seesemann
Die Bauchgeburt – Gedanken zum Bühnenbild
Programmheft zur Uraufführung, Saarländisches Staatstheater, Saarbrücken 2002
Die Hauptrolle von Die Bauchgeburt ist nicht geschrieben – der ungeborene Säugling. Ich habe für diese Besetzung den ältesten Schauspieler des Hauses angefragt.
Das Ungeborene befindet sich im Uterus. Seesemann hat ihn gebaut als Laufband, auf dem der greisbesetzte Säugling dauerrennt. Abgesperrt mit Natodraht, damit keine Frühgeburt droht.
Der Streß für das Ungeborene liegt in den Händen der Mitspieler. Jeder kann mittels Fernbedienung das Tempo des Laufbands für den dauerrennenden Säugling steigern oder drosseln.
Die Schwangerschaft ist kameraüberwacht. Schon beim Einlaß. Unter wummernden Subbässen aus Laurie Andersons Home of the Brave sehen die Zuschauer bereits vor dem Theater in Großaufnahme auf Dutzenden von Monitoren, wie der greise Säugling am Ende seiner Kräfte dauerläuft.
Bei Vorstellungsbeginn in ihren Plätzen ahnen die Zuschauer, daß die Regie den alten Schauspieler den ganzen Abend auf dem Laufband rennen läßt, der Willkür der Mitspieler ausgeliefert.
Urs Odermatt
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Dirk Seesemann wurde 1968 in Magdeburg geboren. Von 1996 bis 2004 arbeitete er als Theatermaler an der „Staatsoper unter den Linden“ in Berlin. Seit dieser Zeit entwirft er Bühnenbilder. Bis 2006 unterrichtete er am Mozarteum in Salzburg am Institut für Bühnen-und Kostümbildgestalung. Er arbeitete als Bühnen- und Kostümbildner u.a. an den Theatern in Potsdam, Magdeburg, Chemnitz, Saarbrücken, Oldenburg, Bregenz, Chur und Rostock und für Inszenierungen von Christine Hofer, Urs Odermatt, Murat Yeginer und Tobias Sosinka. Er lebt in Berlin-Weißensee.