Urs Odermatt Arnold Odermatt The Odermatt Channel The Odermatt Shop Nordwest Film AG, alte Spinnerei 1, 5210 Windisch, Schweiz, +41 56 442 95 90, mail@nordwestfilm.ch Theater Stück Dramaturgie Inszenierung Presse Photos

„Ein Mensch muß eine Krise ausnutzen, sagt die Tablettengruppe“, sagt Sonja. Welche Krise? Daß alles keine Rolle mehr spielt. Weil überall Kameras regieren, aber nirgends mehr ein Sinn ist. Weil kein Mensch mehr da ist, der einen aus dem Schlam(m)assel der sozialen Vereinzelung befreite. Früher, da hatten alle zwar auch schon ihr Alleinsein- und ihr Sozial-Ich und dazu ein Berufs-Ich. Aber das war noch halbwegs ein Gesamt-Ich mit Personalausweis und Auto und so. Aber in diesem künftigen Heute da vorne auf der Bühne der Alten Feuerwache sind alle nur noch Fragment. Depersonalisierte Maschinenmenschen, denen die Gefühle füreinander verloren gingen. In Posen erstarrte Kinder einer neuen Eiszeit. Was Heimat war, ist Irgendwo, ist Nirgendwo. Was Wirklichkeit war, ist ein gequirlter Hirn-Sud aus Erinnerungsfetzen und Gegenwartsresten, aus TV-Happen und News-Schnipseln, aus denen „die Krone der Schöpfung, der Mensch“, wie Benn es einmal verächtlich pointierte, keine Ordnung mehr schafft. Der Fortschrittszirkus hat seine Kinder gefressen. Überall fallen Sätze aus Mündern, als wenn sie keinem gehörten. Was soll die Tablettengruppe da noch tun?

 

Rolf Kemnitzer entwirft in seinem Stück Die Bauchgeburt – am Samstag war Uraufführung – ein technoides Zukunftsszenario. Einen theatralischen Epilog zur post-postmodernen Beliebigkeit. Kemnitzer zeigt eine Welt, die aus den Fugen geraten ist. Im Hintergrund regieren IT-Branche und (gentechnisch aufgerüstete) Babylabors, im Vordergrund generieren sich eine Handvoll Menschen(-Aggregate) durch den Tag. Wenn man noch von Handlung sprechen kann, dann geht es um ein Paar (Felix und Sonja), das ein Kind erwartet. Eine Bauchgeburt, die in Zeiten vollendeter Künstlichkeit zum großen Naturschauspiel wird – ein sensationelles Echo einer verlorenen Zeit. Aber etwas, das sich vermarkten läßt. Felix, als Programmierer von seiner orwellhaften Big-Brother-Firma gefeuert, macht das Geburtsspektakel zum Köder einer Internetshow, mit der er Sonja und sich über die Runden bringen will. Das laborfreie Kind ruft potenzielle Verwerter auf den Plan: Chatter, Reporter et cetera. Sonja aber will das ominöse Etwas in ihr abtöten – weil es ein nicht mehr einlösbares Vermächtnis aus einer Zeit ist, in der noch Liebe war? Eine Mutterfreudenspritze sorgt dann für die nötige Motivation. Die Geburt wirft zuletzt Geld genug ab, um nach Hawaii zu gehen – metaphorisches Südseerelikt aus einer Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat. Inzwischen aber eine Klonwelt unter anderen. Und ist nur noch Zitat.

 

In Urs Odermatts Inszenierung entfaltet Kemnitzers Bauchgeburt über zweieinhalb Stunden hinweg ungeahnte Ausdruckskraft. Odermatt benutzt die unausgegorene Textvorlage als Materialcorpus, den er für die Bühne in einem Akt (überwiegend) furioser Dekonstruktion neu zusammensetzt. Er nimmt dabei die Entpersönlichung, die Kemnitzer durchexerziert, wörtlich. Das Ausdrucksrepertoire der Figuren – ihre Sprache, Mimik, Gestik, Bewegungen und ihre Konstellationen – wird atomisiert, in Module zerlegt. Regieanweisungen werden mitgesprochen, der Rest an Bühnenillusion durch Selbstvorstellungen der Schauspieler gegenüber dem Publikum ausgehebelt, die nur neue Rollen sind. Zwischendurch werden trashgemäß Versatzstücke aus Schlagern intoniert oder der Nationalhymne ein schunkelhaftes „Rein in den Wahnsinn“ unterlegt. Das Theater spielt das (falsche) Leben, das das (wahre) Leben sucht. Der Mensch ist bei Odermatt nur noch Naturspielzeug.

 

Die Figuren sind konsequent in Bausteine zerlegt – der reinste Dekonstruktivismus. Sperrig und auf produktive Weise zerfahren. Auf der von Dirk Seesemann unter Wasser und Schlamm gesetzten Bühne – eine an die Filme Tarkowskijs erinnernde, im Morast versinkende Endzeitwelt – herrscht die Simultanität der Ereignisse: lauter Parallelhandlungen – nie ausgespielt, nur angerissen und wieder in einem mechanischen Wortschwall aus Wiederholungen untergehend. Eine 150minütige Wortchoreografie. Odermatt treibt das Zerhacken von Kausalitäten so weit, daß die Figuren sich zusehends auflösen. Ihre Ausdrucksregungen (Gebärden, Laute) springen auf die anderen über. So daß einer gestisch untermalt, was der andere sagt und umgekehrt. Für die Schauspieler (wie fürs Publikum) eine unerhörte Anstrengung und Herausforderung. Und wäre das gesamte Ensemble nicht in solch glänzender Spiellaune – Jürgen Haug, Max Landgrebe, Thomas Schreyer, Anna Windmüller und Kerstin Rullik –, die auf Risiko setzende Inszenierung ginge in die Hose. So aber sieht man großes Schauspielertheater, das die Grenzen des Sagbaren gestisch und lautmalend, lallend und schreiend erweitert und dabei über manch szenische Überspanntheit hinwegsehen läßt. Mit einem Wort: eine im besten Sinne aus dem üblichen Bühnenrahmen fallende Inszenierung, die nachhaltig wirkt.

Christoph Schreiner

Das Spielzeug Mensch – ein Saarbrücker Ereignis: Urs Odermatts Regie von „Die Bauchgeburt“

Saarbrücker Zeitung, 4. März 2002

 

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Der Autor zeigte sich an der Première in der Feuerwache entspannt trigespalten: Als Zuschauer amüsiert wie Bolle, als Regisseur mäandernd zwischen Zustimmung Widerspruch, und als Autor enteignet bis aufs Hemd.

 

Die Unschärfe: Jedes Wort des Stücks war – wie vereinbart – auf den Bühne. Nicht vereinbart war die Reihenfolge. Und: Texte sind nicht nur Inhalt, auch Form: chorisches und auf viele Stimmen verteiltes korrepetiertes Sprechen verdichtet die Werktreue.

Urs Odermatt

Für den 2. März 2002 war die Uraufführung von Rolf Kemnitzers Stück Die Bauchgeburt am Saarländischen Staatstheater Saarbrücken angekündigt. Für Regisseur Urs Odermatt war der Text jedoch vornehmlich eine, wie er sich ausdrückte, „Improvisationswiese“: „Ich versuche herauszufinden, ob der Text in reichem Maße Spielknetmasse für die Schauspieler bietet, und ob er Material für den Beginn einer Assoziationskette für die spätere Probenarbeit verspricht.“ So entstand, ohne daß das mit dem Autor und dem Verlag abgestimmt worden wäre, eine Assoziationskette von Urs Odermatt, frei nach Rolf Kemnitzer. Die Entdeckung des Theaterstücks Die Bauchgeburt steht noch aus.

Programmheft 2 / April 2002

Verlag der Autoren, Frankfurt am Main

 

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Der Innerschweizer Regisseur Urs Odermatt hat im Staatstheater Saarbrücken Die Bauchgeburt von Rolf Kemnitzer zur Uraufführung gebracht. Das Fünf-Personen-Stück spielt in einer futuristischen Endzeit, in der Kommunikation nur noch übers Internet funktioniert. Eine Bauchgeburt ist in diesen Zeiten mit ausschließlich künstlicher Befruchtung etwas Besonderes. Odermatt rückt diese nicht gerade geistreiche, aber treffend triviale Groteske noch etwas weiter weg von der Gegenwart. Er verteilt nicht nur den Text auf verschiedene Darsteller, so daß eine Identifikation der einzelnen Charaktere unmöglich wird. Odermatt verfremdet den Text zusätzlich, indem er auch die Situation des Theaters thematisiert. Das eher schwache Stück wird so zur Performance hochgepowert, die ihren blassen Aussagegehalt aber trotzdem nicht verhehlen kann. Der Nidwaldner Odermatt ist mit den Kinofilmen Gekauftes Glück (1988) und Wachtmeister Zumbühl (1993) bekannt geworden. Daneben hat er immer wieder fürs Fernsehen und für die Bühne inszeniert.

sda

Bieler Tagblatt, 4. März 2002

Die Bauchgeburt von Rolf Kemnitzer