Gesichter der Schweiz (franz. Visages suisses, ital. Volti svizzeri, eng. Swiss profiles) ist ein Schweizer Dokumentarfilm aus dem Jahre 1991.
In der Tradition des Episodenfilms versammelt er unterschiedliche Portraits aus der Schweiz zur 700-Jahre-Jubiläumsfeier der Eidgenossenschaft im Jahre 1991, gestaltet von dreizehn Regisseuren aus drei Sprachregionen. Sie legen jeweils einen Beitrag von fünf Minuten vor, der in der jeweiligen Handschrift des Filmschaffenden eine persönliche Vision der Schweiz entwirft.
Dieses Portrait einer vielfältigen Schweiz mit siebzehn individuellen Kurzfilmen aus Politik, Kultur, Sport und Wissenschaft wurde auf 35mm-Film gedreht, vom Genfer Claude Richardet produziert und am 9. August 1991 am Filmfestival Locarno uraufgeführt. Später lief Gesichter der Schweiz mit viel Erfolg in den Schweizer Kinos.
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Ein Großvater macht mit seiner Enkelin eine imaginäre Reise durch die Schweiz. Vor ihnen wird der Mythos von Wilhelm Tell wieder lebendig. Das kleine Mädchen entdeckt schließlich das Gebirge und folgt Nicole Niquille, der ersten Schweizer Bergführerin, auf über 4’000 Meter Höhe. Während der Großvater und seine Enkelin im Tessin dem Architekten Mario Botta zuhören, wird ihnen bewußt, daß sich heute wahrscheinlich auch die Betrachtungsweisen geändert haben.
Die Schweizer haben sich Institutionen geschaffen, um die sie alle Welt beneidet. Wir lernen zwei Aspekte der Schweizer Politik kennen, durch Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz und Elisabeth Eschler, Gemeindehauptmann im Kanton Appenzell. In den physikalischen Labors des CERN erforscht der Nobelpreisträger Carlo Rubbia den Ursprung des Universums.
Der Großvater führt uns in die aufregende Welt der Schweizer Künstler. Er zeigt uns die unglaublichen Maschinen von Jean Tinguely, die phantastische Welt von Bruno Weber und den erotischen Automaten von Francois Junod. Wir begegnen dem Sänger und Rebell Pascal Auberson sowie dem Tänzer Xavier Ferla, einem Schüler von Maurice Béjart. Nicht zu vergessen den Zirkus Knie, eine echte Schweizer Institution und bei Groß und Klein im ganzen Land beliebt. Nach einem Halt in Kloster Einsiedeln bei Pater Christoph besuchen wir in Graubünden die rätoromanische Journalistin Maria Cadruvi.
In Basel besichtigen wir das Labor des Forschers Jean-François Borel, der die Technik der Organverpflanzung revolutioniert hat. Dann fliegen wir sogar nach Brasilien zu Roméo Braun, dem Direktor eines großen multinationalen Schweizer Konzerns. Im Tessin treffen wir Machi und Miho, zwei japanische Touristen, welche die Schweiz im Grunde wie ihr Heimatland sehen – als eine Insel.
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Maria Cadruvi, Journalistin
Maria Cadruvi, eine Journalistin des rätoromanischen Radios, recherchiert, erstellt, bearbeitet und moderiert eine Reportage über die Folgen der immensen Waldschäden, die der Sturm Vivian Ende Februar in die Schutzwälder der Gemeinde Curaglia/Medel gerissen hat. Cadruvi interviewt verschiedene Betroffene vor Ort, befragt sie nach ihren Ängsten vor dem kommenden Winter, macht sich Gedanken über die allfällige Evakuation, die Gemeindepräsident Linus Beeli veranlassen will, wenn im Winter über ein Meter Schnee am Hang liegt, und erkundigt sich nach den Folgen für die einheimische Wirtschaft, die der Zusammenbruch der Holzpreise mit sich bringt. Maria Cadruvi zeigt aber auch Bilder der wenigen privaten Stunden einer erfolgreichen Journalisten und nicht zuletzt Impressionen davon, in welch überwältigenden Landschaft des Bündner Oberlandes der Sturm Vivian seine Narben hinterlassen hat.
Ich habe die Absicht, mit Maria Cadruvi zwei filmische Genres, den Dokumentarfilm und den Videoclip, für fünf Minuten miteinander zu verbinden. Ich möchte die beiden Ebenen von Bild und Ton voneinander trennen, den Ton einsetzen wie bei einer Reportage, also dokumentarisch, das Bild hingegen wie bei einem Videoclip, das heißt, in schneller, assoziativer, nicht chronologischer Schnittfolge, in grellem Wechsel von detaillierter und totaler Optik und in einer Erzählweise, die nicht von linearen Abläufen, sondern von flashartigen Einzeleindrücken getragen wird.
In der Tonspur ist die fertig geschnittene, bearbeitete und sendebereite Reportage von Maria Cadruvi zu hören. Diese Reportage nimmt in Maria Cadruvi eine ähnliche Funktion ein wie die Musik in einem Videoclip.
Das Bild zeigt eine assoziativ montierte Folge von Momenten aus allen Zeitebenen der Reportage, also Vorbereitung, Recherche, Arbeitsweg, Interviews, Bearbeitung des aufgenommenen Material, Verfassen der Moderationstexte, Sendung, erzählt und geschnitten in Form und Tempo eines Videoclips.
Der Film beginnt auf dem privaten Maiensäß von Maria Cadruvi, wo die Journalistin in reizvoller Landschaft an ihrer Reportage über die Sturmschäden arbeitet, Begleittexte verfaßt und auf dem Nagra die Interviews abhört. Während im Ton die Reportage ungeschnitten weitergeht, assoziert das Bild frei über die einzelnen Etappen der Entstehung der Reportage, wobei sich Bild und Ton ab und zu wieder decken, etwa dann, wenn ein Interviewter im Bild zu sehen und seine Aussage synchron zu hören ist. Neben den Bildern zum Thema „Holz“ erzählt der Film auch von der anstrengenden Suche nach Gesprächspartnern und den seltenen privaten Momenten der Journalistin Maria Cadruvi, etwa bei ihrer Fahrt durchs malerische Oberland zum Schauplatz Curaglia.
Maria Cadruvi endet mit der Sendung im Radiostudio in Chur, ein letztes Winken der Regie, daß für die Moderation nur noch zehn Sekunden Zeit bleibe, Schlußbemerkung, Musik. Kaum ist die Musik eingeblendet, meldet sich die Regie mit Fragen für den nächsten Programmblock in der Sprecherkabine. In Deutsch. Hier, bei der Technik im Radiostudio in Chur, ist die rätoromanische Welt zu Ende. Sonst wird in Maria Cadruvi ausschließlich Romanisch gesprochen.
Urs Odermatt
Als Journalistin bei Radio DRS befaßt sich Maria Cadruvi mit Sendungen in Rätoromanisch für den Kanton Graubünden. Nach dem Schaden, den der Sturm „Vivian“ im Februar 1990 anrichtete, machte sie eine Reportage im Bündner Ort Curaglia.
Frage an den Bürgermeister von Curaglia: „Wie sehen Sie den kommenden Winter?“ – „In den letzten Jahren war es schön, wenig Schnee. Aber ich denke an 1975. Wenn es wieder soviel Schnee gibt, wird die Lage kritisch für einen Teil des Dorfs. Dann müßte man sogar ans Evakuieren denken.“ – „Evakuieren? Wohin?“ – „1975 haben wir ganze Dörfer evakuiert. Die Leute wohnten bei Verwandten.“
Ein Vorarbeiter: „Ein Italiener ist dabei, die anderen sind Jugoslawen. Die Arbeit ist sehr hart. Es sind alles sehr gute Arbeiter. Das Holz oben wurde von Hand heruntergeholt.“
Ein Dorfbewohner bedauert: „Hier stand unser schützender Wald. Schön war er, über unseren Häusern. Jetzt ist nichts mehr da, nur noch verwüstete Stämme durcheinander. Es ist trostlos, wenn man nach oben schaut. Nach dem Sturm haben wir geweint.“
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Die Journalistin Maria Cadruvi war vor den Dreharbeiten zu Urs Odermatts rätoromanischem Porträt einige Jahre Mitglied der Begutachtungskommission der Eidgenössischen Filmförderung in Bern und hat seinerzeit die Ablehnung der Förderung der Arbeiten von Urs Odermatt empfohlen, unter anderem die Ablehnung bei dem später bei Presse und Publikum sehr erfolgreichen Kinofilm Gekauftes Glück.
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Maria Cadruvi war jahrelang die Bündner Stimme von Radio Rumantsch. Seit Anfang 2010 ist Maria Cadruvi in Pension und lebt in
Ruschein in der Surselva.
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Kurt Gloor
Wilhelm Tell, Mythos
Claude Goretta
Nicole Niquille, Bergführerin
Matteo Bellinelli
Mario Botta, Architekt
Pierre Koralnik
Elisabeth Eschler, Gemeindehauptmann
Simon Edelstein
Jean-Pascal Delamuraz, Bundesrat
Nicolas Gessner
Carlo Rubbia, Physiker
Claude Goretta
Jean Tinguely, Künstler
Urs Odermatt
Maria Cadruvi, Journalistin
Thomas Koerfer
Pater Christoph, Mönch
François Reichenbach
Jean-François Borel, Forscher
Jacqueline Veuve
François Junod, Automatenbauer
Matteo Bellinelli
Machi und Miho, zwei Touristen
Claude Goretta
Pascal Auberson, Sänger
Simon Edelstein
Roméo Braun, Manager
Victor J. Tognola
Marie-Josée Knie, Pferdedresseuse
Hans-Ulrich Schlumpf
Bruno Weber, Künstler
François Reichenbach
Xavier Ferla, Tänzer