Hexenjagd. Klingt nach Mittelalter. Bigotterie. Vorgestern. Der aufgeklärte Zeitgenosse kennt keine Hexen. Wir glauben, was wir sehen, was wir hören, und was in die Finger nehmen und zählen können. Für die sentimentalen Defizite gibt’s die Esoterik. Das Wort „Hexen“ eignet sich allenfalls noch als Drohung für Kinder oder als kokette emanzipatorische Semantik für eine eigenwillige weibliche Persönlichkeit.
Mag sein, daß es keine Hexen mehr gibt. Was sich aber von den alten Unsitten souverän in die Moderne gerettet hat, ist die Lust der Menschen an Hexenjagden. Political Correctness heißt der Imperativ des Zeitgeists. Sind wir nicht alle gute Menschen, führen den Haushalt partnerschaftlich, essen Gemüse aus biologischem Anbau und fahren Velo? Und richten Blick oder Finger – je nach Temperament – auf Machos, Fette und Benzinverbraucher? Natürlich ist das alles noch witzig. Aber irgendwann ist fertig witzig, spätestens dann, wenn das Ausgrenzen aus dem warmen Stübchen der Gutmenscherei irreversibel wird und schon der leiseste Verdacht Existenzen vernichten kann. Wer das in seiner extremsten Form sehen will, denke an die bekannten Fälle von Vätern, Lehrern und Sporttrainern, die in den Ruch des Mißbrauchs Minderjähriger geraten sind und denen der nachträgliche Unschuldsbeweis nicht das geringste nützt. Bei gewissen Verbrechen, deren Schwere niemand in Abrede stellt, geraten wir in Hysterie. Seit sogar in meinem Bekanntenkreis sonst mental ungefährdete Menschen von Todesstrafe „wenn mit Kindern“ reden, weiß ich, daß man auch in einem durch und durch zivilisierten Land wie der Schweiz die Augen offen halten muß.
Deshalb Hexenjagd. Auch wenn hier keine anwaltschaftliche Inszenierung werden soll und ich nicht in den Chor jener einstimmen will, die denen, die ihn ohnehin schon kennen, den Weg der Gerechten weisen möchten, wird der Abend die Fragen nach den Pogromen in der heutigen Zeit nicht aus den Augen verlieren. Dafür wird allein schon das Bühnenbild von Dirk Seesemann sorgen, das uns mit seinem raffinierten Assoziationspiel die Gedanken öffnen wird, wie nah sich in einer heilen Welt Geborgenheit und Bevormundung sind, wie schnell Gemütlichkeit in Ungemütlichkeit umschlagen kann und wie militant eine vermeintlich schweigende Mehrheit eine angeblich falsch denkende Minderheit aussondern kann. Wenn unsere Inszenierung es schafft, das Publikum zu Fragen nach der kleinen Diktatur des Alltags zu provozieren, ist der Abend geglückt. Fragen reichen. Fragen sind bekanntlich die besseren Antworten.
Da ich seit einigen Jahren zu gleichen Teilen für die Bühne und für die Kamera arbeite, und es wenig Sinn macht, auf zwei verschiedenen Hochzeiten den gleichen Tanz zu tanzen, kann der Zuschauer von mir im Theater einen sehr theatergeprägten Abend erwarten. Ich werde nicht versuchen – wie beim Film –, Illusionen und Identifikationsnähe zu bauen, zumal ich nicht an den berüchtigten Rampensprung glaube (das Publikum wird immer wissen, daß es im Theater sitzt; völlig in die Geschichte eintauchen geht nur im Kino, und da selten genug). Vielmehr werde ich versuchen, mit den Werkzeugen zu arbeiten, die nur im Theater gut funktionieren, der Behauptung, der Abstraktion, der Reduktion. Knappe Anschlüsse. Sprachchoreographien. Spontane Rollen, die in der Probe entstehen und nicht im Textbuch stehen („Wer spielt die Grippeviren?“). Dabei soll nichts unversucht bleiben, den Hauptfeind des Theaters zu schlagen, der uns leider nur allzu oft besiegt: Die Langeweile! Hexenjagd soll – daran möchten wir gemessen werden – ein ausgesprochen unterhaltsamer Abend werden. Und gleichzeitig ein sehr fordernder: Nachdenken muß sein. Dieses alte Rezept ist für mich Konzept: Den Griff in die Kolportage tiefer...; für das Lachen zahlt das Publikum mit einem sperrigen Rätsel. Manchmal gelingt es. Lustig und ernst. In der Musik würde man es einen Flirt zwischen U und E nennen.
Urs Odermatt
*
Der Ort des Ereignisses: Eine Enklave der urgemütlichen Kleinbürgerlichkeit. Die Ideale der guten alten Biedermeierzeit werden hochgehalten, Freundlichkeit, Friedfertigkeit und Nachbarschaftlichkeit.
Andererseits: Jede enge Gemeinschaft definiert sich in ihrem Zusammenhalt vor allem über den gemeinsamen Feind. Und der findet sich im engen Umfeld. Da gibt es den Nachbarn, der den regelmäßigen Kirchgang scheut, die junge Frau, die offen Männerbesuch empfängt und vor allem diejenigen, die sagen, was sie denken, auch wenn es nicht dem Gemeinwohl zuträglich ist. Vor allem diejenigen, die skeptisch sind, wenn immer wieder ein bedingungsloses Bekenntnis zur Gemeinschaft und Nation gefordert wird. Wenn dies dann auch noch als Freiheit bezeichnet wird. All jene fallen dann aus dem Rahmen, wenn ihre Spießbürgernachbarn Recht und Moral einfordern. Das Recht der Mehrheit. Das gleiche Recht, das John Proctor im Hexenprozeß verurteilt, das den Islam in Anbetracht der gegenwärtigen politischen Lage verteufelt, jeden Andersdenkenden einen Terroristen schilt, jeden Sozialhilfeempfänger einen Parasiten.
Dirk Seesemann
*
Die Arbeitsweise des Regisseurs Urs Odermatt läßt das Stück erst bei den Proben kontinuierlich entstehen, so daß ich an die erste zwar mit zahlreichen Ideen erschien, aber noch ohne eine einzige Note aufgeschrieben zu haben. So entsteht die Musik in engster Zusammenarbeit mit der Regie, und ich kann immer fortwährend die entstehenden Szenen musikalisch umsetzten.
Die Musik spielt sich auf drei Ebenen ab, die auch schon das reine Textbuch liefert: Die Ebene des Volkes (Gemurmel, Gerüchte, Kirche...), für die mir zwei Chöre zur Verfügung stehen, live gespielte Musikeinsätze (vokal oder instrumental), die sich direkt in die Szene einpassen, sowie ab Band eingespielte Musik. Diese letzte Ebene nimmt den gewichtigsten Teil ein. Sie wird zwar einerseits vom jeweils auf der Bühne Sichtbaren inspiriert, gestaltet aber gleichzeitig das ganze Stück auf einer ganz eigenen (Gefühls-)Ebene und dies Hand in Hand mit dem Lichtkonzept, womit eine Unterschwelligkeit erreicht wird, die der Filmmusik sehr ähnlich ist. Die Palette dieser Musik reicht von der klassisch zeitgenössischen Komposition über rein elektronische Musik bis zum music mix im DJ-Stil.
David Sontòn-Caflisch
John Proctor
Arthur Miller ist ein alter Mann. Er weiß es nicht besser. Hängen rechnet sich nicht. Kaufmännisch gesehen, ist Hängen Unsinn. Hängen wickeln wir ab. Mittelalter kann man mit uns nicht machen. Wir gehen mit der Zeit. Wir sind die Zivilisation. Niemand soll sinnlos sterben. Bei uns wird nichts weggeschmissen. Todesstrafe ist Verschwendung. Wer eine Niere spendet, darf weiterleben. Es gibt so viele arme Kinder. Oder ein Auge. Ein Auge für lebenslänglich. Das ist besser als Grillen, Abspritzen oder Nackenschuß. Beide Augen für dreißig Jahre. Sagen wir fünfundzwanzig. Wir sind keine Unmenschen. Ohne zwei Augen ist ja fast blind. Die Augen für ein neues Leben. Ein neues Leben nach fünfundzwanzig Jahren Knast. Mehr können wir nicht tun. Es gibt so viele arme Kinder. Vielleicht noch die Leber. Weitere fünf Jahre Rabatt. Und ’nen Zusatznutzen: Keinen Schnaps und strenge Diät ist billiger. Könnt’ ihr was fürs Alter zurücklegen. Wie wär’s mit ’ner großzügigen Rückenmarkspende? Rückenmark ist gesuchtes Material. Es gibt so viele arme Kinder. Fünf Jahre Rabatt. Dazu einen Stuhl zum Rollen. Stabiles Modell aus Grosny. Macht der Volkswirtschaft kaum Spesen. Braucht ihr eure Fressen noch? Brandopfer sind arme Schweine. Frische Haut rettet Leben. Wieder fünf Jahre. Da kommt doch was zusammen. Es gibt so viele arme Kinder. Ohne Skalp wird keiner rückfällig. Eure Hoden sichern die Zukunft. Laßt junge Menschen damit ficken. Gibt fünf Jahre Freiheit. Euer Gehirn hilft der Forschung. Tierversuche sind pervers. Unseren Lieblingen bringen sie gar nichts. Ihr bekommt dafür die Freiheit. Wir machen ein paar Experimente. Ein paar kleine Versuche für die Forschung. Wenn ihr durchhaltet, karren wir euch nach Hause. Was von euch am Stück geblieben ist. Das ist besser als Hängen. Das ist besser als in der anschließenden Autopsie bei lebendigem Leibe verwurstet zu werden, wenn der Henker ein Pfuscher war. Es gibt so viele arme Kinder. Ihr habt fremdes Leben vernichtet. Jetzt rettet ihr fremdes Leben. Dafür schenken wir euch euer Leben. Wir sind die Zivilisation. If you do cooperate. Ausschlachten. Wiederverwerten. Ist alles freiwillig. Wer nicht will, muß nicht. Aber dann kommt der Henker. Hängen ist Verschwendung. Es wäre schade. Es gibt so viele arme Kinder.
Bearbeitung: Urs Odermatt
*
Richter Hathorne
Nun, Martha Corey, uns liegen genügend Beweise vor, die Sie überführen, daß Sie sich dem Studium der Wahrsagerei gewidmet haben. Leugnen Sie das?
Martha
Ich bin keine Hexe. Ich bin unschuldig. Ich weiß gar nicht, was eine Hexe ist.
Richter Hathorne
Wie wollen Sie das wissen, wenn Sie keine Hexe sind?
Martha
Wenn ich eine wäre, wüßte ich es.
*
Abigail
Ich sehne den Tag herbei, an dem er gehängt wird und ich endlich wieder in Ruhe schlafen kann.
*
Reverend John Hale
Exzellenz, ich habe zweiundsiebzig Todesurteile unterzeichnet. Ich bin ein Diener Gottes, und ich wage es nicht, ein Leben zu opfern, ohne daß es einen klaren Schuldbeweis gibt, so klar, daß selbst der leiseste Gewissensskrupel daran nicht zweifeln könnte.