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Achtung! Casting

dokumentiert als Backstage-Film das Vorsprechen für Kora

 

 

Willkommen zur Leseprobe

 

Ein paar Angaben zum heutigen Vorsprechen: Wir werden einstündige Zeitfenster haben, in denen eine Handvoll Schauspieler gleichzeitig für eine Rolle vorspricht. Die Schauspieler stellen sich Schulter an Schulter für das Gruppenrollenbild in einer Linie auf. Der erste geht zum Mikrophon, stellt sich vor und verrät, warum er hier ist. Dann läuft er auf zur Marke bei der Kamera und spricht seinen Text. Die Dialoge werden eingesprochen. Das Einsprechen kommt nicht aus dem Off, der Einsprecher ist vielmehr in der Rolle des Einsprechers selbst Teil der Szene. Anspielparter für Schauspieler und Einsprecher ist immer die Kamera. Bei einer Zweierszene spielt die Kamera wie ein imaginärer Spiegel für die Schauspieler mit. Sie kennen das Prinzip vom Theater. Frontalspiel Schulter an Schulter an der Rampe für eine Dialogszene. Mit dem Abgang des ersten geht der zweite Schauspieler zum Mikrophon und stellt sich vor. Die Kamera dreht ohne Pause mit, bis zum letzten Abgang des letzten Schauspielers.

 

Die Bildgröße ist nicht nah, wie beim Fernsehen, sondern groß, wie bei Charles Bronson. Also: Auge, Nase, Mund. Diese Bildgröße stellt – neben dem wichtigsten: dem Text –, das genauso wichtigste in den Mittelpunkt: die Augen. Die Augen sind das Fenster zur Seele. Wenn Sie Ihren Blicken Durchlässigkeit gewähren, sieht die Kamera, was die Seele erzählt. Wenn sie etwas zu erzählen hat. Aber das ist Ihre Baustelle!

 

Achten Sie bei der Großaufnahme auf die Kopfhaltung. Tragen Sie die Nase hoch, werden die Zähne riesig, und Ihre Augen werden zu Knopfaugen. Besser: Nase tief, so bleiben die Augen schön groß und der Mund zurückhaltend. Es lohnt sich, daran zu denken. Sie werden sich selbst dafür danken.

 

Die Kamera ist Spielpartner, nicht Anspielmarke. Also nicht Starren und Glotzen, sondern Blicke setzen. Das Timing und die Impulse der Interaktion sind beim Spiel mit der Kamera entscheidend. Die Kamera ist nur für Sie da. Verführen Sie sie. Reißen Sie sie in Ihre Abgründe.

 

Ihre Schritte zur Kamera, ihre Körpersprache, sind Teil der Szene. Treffen Sie die Marke genau. Die Kamera wird Ihnen nicht folgen. Das ist keine Schikane, vielmehr ein Angebot. Sie entscheiden, wie, wann, ob und wie scharf sie im Bild sind. Sie gestalten Auftritt und Abgang. Sie spielen in einem Käfig. Gitterstäbe sind der beistrichpräzise Text und die starre Kamera. Im Käfig selbst ist die Freiheit grenzenlos.

 

Wenn Sie Ihre Haltung, ihr Spiel für die Szene, gefunden haben, schmeißen Sie sie weg. Suchen Sie Neues. Bestes wird durch Wiederholung nicht besser. Nur Wiederholung. Steter Wechsel garantiert die Vielfalt. Natürlich ist der Text in Stein gemeißelt, und die Kamera steht unerschütterlich, wo sie steht. Aber alles andere ist frei. Nutzen Sie die Freiheit. Langweilen Sie nicht. Das Casting will nicht sehen, was Sie spielen, sondern wie Sie spielen. Das Was kann jeder. Das Wie ist die wahre Herausforderung.

 

Die Texte sind Kunstsprache – auch wenn sie sich erst realistisch lesen. Aber das Leben ist nie so schlagfertig. Die Texte sind endkurz und auf knappe Anschlüsse geschrieben. Also: Anatmen unter dem Text des Spielpartners, und auf dessen Satzende sofort Gegenrede setzen. Das heißt nicht, rasendes Sprechtempo. In den Dialogen selbst gibt es viel Platz für Zäsuren, für Tempowechsel, für Haltung, Gedanken und Wirkung. Aber die Anschlüsse immer in britischer Kürze. Nicht mit viel Berliner Luft. (...)

Urs Odermatt

 

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Achtung! Casting – ein Filmtitel als Warnung. Wer macht denn so etwas? Urs Odermatt. Der böse Bube, der 2011 Der böse Onkel verfilmt hat und damit einige Puristen gegen sich aufbrachte, dafür viele Unvoreingenommenen für sich einnahm. Ausgegeben hat er für den Film nicht viel. „Ich bin ein Nutznießer der digitalen Revolution“, sagt der in Stans geborene Autor und Regisseur, der sein Handwerk bei Krzysztof Kieślowski und Edward Żebrowski in Polen gelernt hat. „Wenn Sie so einen Film analog drehen wollen, dann kostet das Material alleine schon einen sechsstelligen Betrag. Ein paar Terafestplatten sind da viel erschwinglicher.“

 

Der böse Onkel war der erste digitale Spielfilm der Schweiz. Er rückte seinen Schöpfer nicht nur wegen des heißen Themas des sexuellen Mißbrauchs in den Fokus der Öffentlichkeit, sondern auch wegen seiner, für Schweizer Verhältnisse, total neuen und unkonventionellen Machart. Odermatt tut nicht, was man tut, um eine Geschichte filmisch darzustellen. Er hat eine Geschichte, nein, einen Text, und den will er von seinen Schauspielern so verinnerlicht wissen, daß der Zuschauer einer halbnackten 50jährigen glaubt, wenn sie ihm sagt: „Ich bin fünfzehn.“

 

Es geht in Achtung! Casting um nichts anderes, als um genau diesen magischen Moment, in dem ein Schauspieler mit einem vorgegebenen Text für den Zuschauer zu einem glaubhaften und spürbaren Ganzen wird. „In der Theorie heißt es, Kino sei Illusion, und Theater sei Behauptung“, sagt Odermatt und grinst dann fast spitzbübisch. „Ich wünsche mir, daß nach der Première dieses Films ein Gerücht die Runde macht, nämlich, daß die Behauptung im Film auch funktioniert.“

 

Odermatt hatte für sein aktuelles Spielfilmprojekt, Kora, Schauspieler gesucht. Zum Casting erschienen mehr als sechshundert Personen. Er ließ sie alle, immer gruppenweise, dieselben Textpassagen sprechen. Dabei verlangte er nicht nur absolute Textgenauigkeit, sondern die totale Hingabe: „Ich wollte nicht wissen, was sie können – daß sie ihr Handwerk verstehen, davon gehe ich aus –, sondern, was sie zu geben bereit sind.“ Das Casting wurde aufgezeichnet, um daraus einen Kurzfilm zu schneiden. Mit diesem wollte Odermatts Produzentin, Jasmin Morgan, auf Sponsorensuche für das Kora-Projekt gehen. Doch beim Schneiden des Materials merkten die beiden, daß viel mehr in diesen Aufnahmen steckte. So wurde aus dem Kurzfilm für Kora eine abendfüllende Dokumentation von fünfundachtzig Minuten, die in packender und berührender Weise zeigt, was es braucht, um als Schauspieler zu überzeugen. Dazu Odermatt lakonisch: „Die Besten kommen groß raus, nicht die Guten.“

Christian Breitschmid

Nur die Harten kommen in den Garten

Aargauer Zeitung, Wohlen, 5. Juli 2018

 

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Notizen der Produzentin

 

Produzentin der Filme von Urs Odermatt wurde ich als branchenfremde Quereinsteigerin. Als ich den Regisseur 2007 kennenlernte, stieß ich gleich von Anfang an auf seine Arbeit mit den Schauspielern bei Mein Kampf von George Tabori – Vorsprechen, Castings, Proben und Dreharbeiten.

 

Urs Odermatts eigene Methode, Castings zu gestalten, war für mich das naheliegende, selbstverständliche und sinnvolle Vorgehen, das ich gleich ohne Nachdenken begleitete. Erst im Laufe der Zeit, als ich den Weg anderer Produzenten und Filmleute kennenlernte und Einblick in deren Arbeit bei Film und Fernsehen erhielt, wurde mir klar, wie anders Urs Odermatts Vorgehen bei Castings ist.

 

Branchenüblich ist, daß externe Besetzungsfachleute die Schauspieler für die Produktion casten. Mit großem Einfluß der gesichtervorschlagenden Schauspielagenturen, aller beteiligten Koproduzenten, der mitentscheidenden Fernsehredakteure sowie der Wohnsitzvorgabe der Filmförderung. Das geht von der aufwendigen Besetzungsrecherche bis hin zu sogenannten E-Castings, bei denen die Schauspieler online oder auf Datenträgern einen Rollentext sowie einen Motivationstext sprechen und der Produktion übermitteln. Am Ende wird die Auswahl dem Regisseur vorgeschlagen oder mitgeteilt.

 

Mir erschien das unpassend, ist es doch der Regisseur, der überzeugt sein muß, daß ein Schauspieler für Stück, Rolle und Zusammenarbeit paßt, und genauso ist es der Schauspieler, der überzeugt sein muß, daß für ihn die Zusammenarbeit mit dem Regisseur paßt. Letztlich ein Vorgehen, das sich gar nicht so sehr von einem Bewerbungsgespräch in einer anderen kreativen Branche unterscheidet: das persönliche Kennenlernen zweier Gestalter, das gemeinsame Probieren einer möglichen Konstellation, das Herausfinden, ob es paßt oder nicht, ob man sich in der Arbeit versteht und die Codes kurz sind. Ob es neben dem Verbalen noch eine intuitive Kommunikation gibt. Ob die Lust da ist, sich über den Dienst nach Vorschrift aufeinander einzulassen. Das Resultat der gemeinsamen Anstrengung hängt sehr stark von diesem Prozeß ab. Wir hätten Schauspieler verloren, hätten sie erst während der Dreharbeiten gemerkt, worauf sie sich über einen längeren Zeitraum eingelassen haben. Vorstellungsgespräche in der Kneipe, Demovideos und Agenturcastings sind kein Ersatz für das persönliche Kennenlernen in der konkreten, drehnahen Arbeit.

 

Nach den Erfahrungen bei Der böse Onkel, wo Urs Odermatt Szenen aus den Castings, den Making-ofs und aus Interviews als formales Element im Film verwendete – also Brechen mit den Regeln der filmischen Illusion durch Schleifen der Vierten Wand und das Kombinieren von Elementen der Bühne, der Filmfiktion und des Dokumentarischen – war mir klar, daß wir die Castings zum aufwendigen Spielfilm Kora mit seinen drei Ebenen Realität im europäischen Osten, Tagtraum in Irland und kommentierende Weisheiten der Filmbranche bereits als Dreharbeiten gestalten müssen. Mit einer 4K-Kinokamera, zwei Second-Unit-Kameras und guter Lichtausstattung, im Studio und mit einer vollständigen Crew. Aus Produzentensicht hat dies den Vorteil, daß sich bei dieser Gelegenheit neue Konstellationen hinter der Kamera kurzzeitig ausprobieren lassen. Es nützt ja nichts, wenn man sich beim Biergeplauder bestens versteht, aber die Zusammenarbeit stockt. Bei Der böse Onkel habe ich gesehen, wie privat Fremde hinter der Kamera größte Arbeitsintimität finden können.

 

Das Organisieren der Castings von Urs Odermatt ist eine aufregende und spannende Sache. Meist, wie bei Kora, erzählen seine Dialoge frechste Quersichten zu einem sozial relevanten Stoff. Am Vorabend vor dem Casting macht Urs Odermatt eine Leseprobe mit allen Teilnehmern. Neben den Dialogen der Vorsprechszenen erhält jeder Bewerber das vollständige Drehbuch ein paar Wochen vor dem Termin zur Vorbereitung. Wir haben lange diskutiert, ob wir wirklich riskieren sollen, daß alle Welt das Drehbuch vor Drehbeginn kennt – und wir haben uns entschlossen, daß es für Schauspieler und Crew keine Geheimnisse geben soll; je mehr Leute das Drehbuch kennen, desto mehr Leute entlarven einen allfälligen Ideenklau. Trotz der strengen Vorgaben, die wir schon in der Castingausschreibung entwarfen – No-Budget-Projekt, Bereitschaft zu Nacktszenen, Casting als Teil der Dreharbeiten, anspruchsvolle und beistrichpräzisezulernende Texte – haben uns über achthundert Zuschriften erreicht. Eine Handvoll Bewerber hat später einen Rückzieher gemacht, nachdem sie alle Informationen studiert haben. Andere haben sich samt befreundeten Schauspielerkollegen angemeldet, um sich der Herausforderung zu stellen. Einige Schauspieler reisten an, obschon sie wußten, daß sie wegen ihrer Theaterengagements gar nicht für den Film besetzt werden können, nur, weil sie von den „berüchtigten“ Odermatt-Castings gehört haben und die Forderungen seiner Texte selbst bestätigt sehen wollten.

 

Die Leseprobe war rammelvoll. Urs Odermatt erklärte das Konzept des Films, die Inszenierung, den Ablauf des Castings, er las mit den Schauspielern die Texte und stellte sich den Fragen des Wie-weit-gehens („…so intim wie möglich, aber keine Sekunde privat.“). Er besteht immer, wie bei den Noten einer Partitur, auf das silbengenaue Sprechen seiner Texte, er arbeitet mit der Kamera supernah, oft ist sie Spielpartnerin mit Anspiel direkt in die Optik, er läßt aber im Spiel selbst den Schauspielern allen Freiraum bei der Gestaltung die Rolle, mit der ständigen Forderung nach Veränderung („Das habe ich schon gesehen!“).

 

Urs Odermatts Perfektionismus, die Präzision und Strenge wie auch die Eigenheiten in der Spielleitung sowie die in ihre Knappheit erst leicht scheinenden, im schnellen Rhythmus der Dialoge und in den superknappen Anschlüssen aber knüppelharten Texte lassen viele Schauspieler bald an Grenzen stoßen. Nach meiner Beobachtung schätzten es die Schauspieler stets sehr, mit Respekt auf gleicher Augenhöhe und in dieser unnachgiebiger Strenge gefordert zu werden. Strenge in einem ruhigen und schweizerisch höflichen Umgangston, nicht immer nett, fair und politisch korrekt – es geht um Ausloten von Grenzen, aber nie mit einem falschen Ton. Ich habe ihn in den elf Jahren, die wir nun zusammenarbeiten, nie laut schimpfen gehört, in den brenzligsten Situationen nie die Nerven verlieren gesehen. Genau zu wissen, was er will, hilft. Und perfekte Vorbereitung hilft, bei Not locker zu improvisieren. Außerdem haben höfliche, ruhige, aber unerbittliche Schweizer uns Deutsche schon immer entwaffnet.

 

Es ist für mich als Produzentin wahnsinnig spannend, der Arbeit von Urs Odermatt mit den Schauspielern zuzusehen. Die meisten Teilnehmer seiner Castings waren sehr gut vorbereitet. Mit Haltungen, Ideen und Ansätzen zur Rolle, auf die man gar nicht kommt. Da das Drehbuch Kora über weite Strecken eine reine Dialogliste ist, läßt es der Phantasie der Schauspieler überaus viel Raum. Oft denke ich, daß ein Schauspieler vom Typ überhaupt nicht auf die Rolle paßt. Dann macht dieser sich die Figur so überraschend anders zu eigen, daß ich wider Erwarten erstaunt zustimme. Urs Odermatt ist da völlig schmerzfrei und schaut sich alles neugierig an, selbst wenn sich Großmütter für Teenierollen melden. Er läßt immer Raum für Wiederholungen, und wenn der Schauspieler nach einem kläglichen Waterloo eine zweite Chance an einen neuen Termin will, ist das immer möglich. Es gab schon Hauptrollezusagen beim dritten Castings mit Nein in der ersten und in der zweiten Runde. Tränen und Stürze zählen nicht, nur das Auf- und Hinstehen gewinnt. Es ist für mich mehr als faszinierend zu sehen, wie schmal die Gratwanderung der Schauspieler ist, selbst oder gerade bei der körperlichen Anstrengung und der immensen Konzentration, wie sie das Kora-Drehbuch verlangt, derart fesselnden Emotionen zu transportieren, in intimsten Maße Haut und vor allem die Seele blankzuziehen, dies aber immer mit Spielwerkzeug zu bauen und nie privat werden zu lassen. Bei Urs Odermatts Dreharbeiten fällt jeder am Ende des Drehtags todmüde ins nächstgelegene Bett.

 

Nach den einzelnen Castings gab es nie viel zu diskutieren; die Bilder der aufgezeichneten Szenen zeigen meist klar und eindeutig, welche Besetzung vom Sitz reißt. Aber es gibt auch eine Reihe Schauspieler, die sich mit bloßer Begeisterung, Spielwut und Empathie Urs Odermatt an den Gehrockzipfel gehängt haben und schließlich Teil des Ensembles wurden. Urs Odermatt hat nie einen Schauspieler weggeschickt, wenn dieser sich ums Verrecken nicht hat abwimmeln lassen und bei den Dreharbeiten einfach auf der Matte stand. Auch in Ballenstedt hat er einige Male – wenn keine passende Rolle im Drehbuch stand – über Nacht für den ungefragt Ungereisten etwas geschrieben. Als Produzentin habe oft nur schimpfend akzeptiert, daß ein Hotelbett mehr zu bezahlen, ein Maul mehr zu stopfen, ein Maske- und Kostümbau mehr einzuplanen war.

 

Die Sichtung des Castingmaterials blieb fesselnd. Die Schauspieler – viele kenne ich mittlerweile als gute Kollegen persönlich – sind im Spiel oft völlig anders als privat und live. Kantinenclowns muß die Regie oft sehr viel helfen; graue Mäuse blühen manchmal vor der Kamera völlig auf. Beides passiert, und alles ist möglich. Es gab Schauspieler, an die wir uns bei der Heimfahrt nach dem Casting kaum erinnerten – kaum sahen wir sie auf dem Monitor, hat es uns fast umgehauen. Ich bat Urs Odermatt und den Schnittmeister Felix Balke, mir für die Finanzierungsarbeiten zu Kora einen fünfminütigen Teaser aus dem Castingmaterial zusammenstellen, damit potentielle Geldgeber einen gültigen Eindruck des Projekts Kora und der Arbeit an den Texten erhalten.

 

Ich plante zwei Tage mit Felix Balke und Urs Odermatt am Schnittplatz dafür ein. Aber ein Kurzfilm war mit den beiden bockigen Künstlern nicht zu machen. Aus den fünf Minuten wurden zehn, dann zwanzig, aus den zwei Tagen Wochen, dann Monate. Ich ließ sie machen – die Aufnahmen der Castings waren so inspirierend, daß die beiden nicht aufhörten, sie zu montieren. In den folgenden Castings sowie bei den Dreharbeiten in Ballenstedt zeigten wir Teile des Schnitts Crew und Cast beim Abendbier. Es wurden lange Abende.

 

Felix Balke und Urs Odermatt haben in vielen Monaten einen Film auf die Welt gezaubert, der völlig andersartig ist. Eine Dokument der Castings, ein Fest der Schauspielkunst, ein Fest von Timing und Montage, eine performative Installation, ein Experiment – sehr Odermatt.

 

Dieser spontan entstandene Film ist ein riesiges Geschenk für mich und für alle, die vor und hinter der Kamera alles gegeben haben. Ein Geschenk, das zeigt, wie Castings sein können, wenn es nicht um den kleinsten gemeinsamen Nenner aller vorauseilend vorsichtigen Weisungsberechtigten geht, sondern um das beste, nur das beste über alles.

 

Ich habe jetzt nicht nur ein paar Minuten Teaser für meinen Finanzierungsmarathon, sondern ein abendfüllendes, geniales Werk, ein Privileg, das mich an Steidl erinnert, dessen halbjährliche Verlagskataloge aufwendiger sind als viele Bücher anderer Verlage und bei dem Urs Odermatt in Göttingen vier große Photobücher herausgegeben hat. Ich freue mich – mit diesem Werkzeug in der Hand – auf die Produktionsarbeiten zu Kora; bereits jetzt hat der Film einige Türen geöffnet, für mich, wie auch für Schauspieler und Crewmitglieder.

 

Achtung! Casting haben wir unseren Film getauft. Als nichtgewinnorientiertes, begleitendes Werk zu Kora verfügt der Verein Kulturwerkstatt Nordwest mit Achtung! Casting über einen einzigartigen Backstage-Film, den ich an Festivals, in Sondervorführungen im Kino und – mit einem 48seitigen Textbeiheft – als DVD oder VoD zeigen kann.

Jasmin Morgan

 

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Anders als zu meiner Studentenzeit ist der Film zum angepaßten Wurmfortsatz der Kultur geworden. Godard würde heute das Kino gegen die zeitgenössische Kunst tauschen.

Urs Odermatt

 

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Sie lauern nicht am rechten oder unteren Rand der Gesellschaft, sie gehören nicht zu den Bildungsfernen und -verlierern, sie kommen nicht aus unterentwickelten Regionen; sie sitzen an den Schaltstellen von Kunst und Wissenschaft, schreiben in Qualitätsmedien, diskutieren an Universitäten, leiten Gemäldegalerien, dominieren die Talkshows. Barbaren sind sie doch. Im Grunde ihres Herzens verachten sie die Kunst.

 

Unter dem Vorwand, gegen Sexismus und Rassismus zu kämpfen, übermalen sie Gedichte, lassen Bilder aus Museen verschwinden, retuschieren Filme, boykottieren Konzerte. Erfüllt vom Gedanken, daß die Kombination subjektiver Betroffenheit und politisch korrekter Gesinnung alles erlaubt, setzen sie zu Säuberungsaktionen an, die die Welt von allen ästhetischen Zweideutigkeiten, Provokationen, Verstörungen und Asymmetrien des

Begehrens befreit.

 

Denkfehler, die man in keinem Proseminar durchgehen ließe, gehören zum guten Ton – die Verwechslung von Geltung und Genese. Daß ein Kunstwerk büssen muß, weil sein Schöpfer ein nach heutigen Maßstäben nicht ganz untadeliges Leben führte, ist Selbstverständlichkeit geworden. Daß für die Beurteilung von Kunst der historische Kontext eine Rolle spielt, daß profundes Wissen davor schützt, hinter jedem Frauenakt Sexismus zu wittern, ist vergessen oder wird demonstrativ ignoriert.

 

Natürlich: Keiner der neuen Kunstfeinde will Ideen, Werke oder Gedanken zensieren. Man hängt ein Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, das eine mythologische Szene zeigt, in der lüsterne Nymphen einen jungen Mann ins Verderben ziehen, einfach ab, um, wie es so schön heißt, einen Diskurs zu provozieren. Da hat jemand etwas grundsätzlich nicht verstanden: Wenn ich über Kunstwerke und ihre Ambivalenz, auch über ihre Schattenseiten, diskutieren will, muß ich die Werke sehen, wahrnehmen, studieren können. (...)

 

Das vom gehobenen Feuilleton mitunter geteilte oder geheuchelte Verständnis für die Aktivitäten der neuen Barbaren ist weniger Anzeichen einer abwägenden Analyse als vielmehr Ausdruck eines tiefsitzenden Kleinmuts. Kaum jemand will noch eine Kunst verteidigen, der willkürlich die Attribute sexistisch, frauenverachtend oder rassistisch zudiktiert werden. Daß die Qualität eines Kunstwerks nicht in seinem Programm aufgeht, daß Kunstwerke auch geschätzt werden, weil der Widerspruch zwischen Form und Inhalt ein Oszillieren zwischen Affirmation und Kritik ermöglicht, ist nicht nur ein zu komplexer Gedanke für die einfältige Moral unserer Zeit, sondern für viele auch keine ästhetische Erfahrungsmöglichkeit mehr.

 

Hinter der Kritik an angeblich moralisch zweifelhafter Kunst verbirgt sich Kunstfeindschaft, Haß auf Schönes, das sich einfachen Kategorisierungen und Zuordnungen entzieht. Die neuen Kunstfeinde möchten in einer Welt leben, in der alles eindeutig, idyllisch, sauber, unbefleckt, vertraglich geregelt, eintönig und irritationsfrei ist. Biedere Barbaren sind am Werk, gegen die die Kleinbürger des Biedermeier ästhetisch aufgeschlossene Rebellen waren.

Konrad Paul Liessmann

Die Barbaren sind mitten unter uns

Neue Zürcher Zeitung, 8. Februar 2018

 

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Daß Schauspieler, die zum Casting kommen, bestes Handwerk können, davon gehe ich aus. Typecasting machen Castingagenturen. Mir geht es um Durchlässigkeit, Preisgabe, Keine-Angst-vor-gar-nichts und den Blick in die Seele. Ich besetze Frauen für Männer, Greise für Säuglinge, Einäugige für Kameraleute, Stotterer für Regisseure. Wenn sie mich am Casting umhauen.

Urs Odermatt

 

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Das Herz hat Gründe, die die Vernunft nicht kennt. Dazu gehört der Schluß: Unabhängig ist böse, und böse ist rechts. Ich bin unabhängig, das gebe ich zu.

Peter Sloterdijk

Neue Zürcher Zeitung, 30. März 2018

 

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Die Rollenvorsprechen für Kora fanden in fünf Castingstudios in Deutschland und in der Schweiz statt:

 

Fachhochschule Nordwestschweiz, Brugg

Europäisches Theaterinstitut ETI, Berlin

Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg, Ludwigsburg

ehem. GST-Schule, Ballenstedt

Dieselhalle, alte Spinnerei, Windisch

Keine Angst vor gar nichts!

 

Urs Odermatts Castings sind berühmt und berüchtigt. Wenn er einlädt, gibt es nur Ja oder Nein. Viele sagen nein – nackt, kaltes Wasser, Ohrfeigen oder schlimmer vor der Kamera geht gar nicht! Viele sagen ja! – Endlich gefordert, vielleicht überfordert zu werden, dafür haben sie den Beruf gelernt.

 

Eingesperrt in den Käfig in Stein gemeißelter, rasender Texte, geknebelt von der gnadenlosen Kameranähe, die in den Augen die Abgründe der Seele liest, aber ausgestattet mit aller Spiel- und Denkfreiheit der Welt, geben über sechshundert Schauspieler im Casting alles für eine Rolle in einem Independentfilm von Urs Odermatt.

 

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Ingmar Bergman auf Speed – eine performativ beschleunigte Gesichter-, Mimik- und Artikulationsstudie, eine Sprechoper ohne Kulissen, ein durchrhythmisierter Par­force­ritt durch prägnante Kora-Dialoge, bei dem Schnittechnik, Texte und die Großaufnahme ganz im Vordergrund stehen. Das hat einen starken Sog und eine enorme Wucht!

 

Die Faszination entsteht durch die Gesichter-, Stimmen-, Mimik- und Duktus-Unterschiede. Ein Kaleidoskop menschlicher Gesichter und Stimmen, Betonungen und Expressivität. Es ist kein gefälliger Casting-Film, es ist eine Konfrontation des Zuschauers mit dem Darstellungswillen, dem Ausdruckswillen, dem Aufmerksamkeitswillen der Schauspieler. Es ist Respekt und Wertschätzung für den Einzelnen, der sich der Kamera nackt aussetzt, die gnadenlos filmt und beurteilt, durch Hochauflösung physiognomischer Eigenarten. Es ist ein Reigen körperlich- und stimmlich-mimischer Bewerbungen, die überzeugen, nein, überwältigen wollen.

 

Achtung! Casting ist kein Casting-Film, sondern ein genrehybrider Kunst-Film, der die Castingsituation formal, rhythmisch und inhaltlich auf die Energetik und Einmaligkeit menschlicher Körper, Gesichter, Stimmen fokussiert. Das habe ich so noch nie gesehen, das ist sehr radikal und erst einmal eine Überforderung – wie immer bei Dir.

Michael Birkner, Dramaturg

 

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Der Unterschied zwischen privat und intim ist die Form. Privat darf nie, intim kann nie genug. Es ist ein Seiltanz über der Hölle des Scheiterns.

Urs Odermatt

 

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Krupp

Ein gesundes Volk wichst nicht. Es befruchtet.

 

Isabel

Seit Jahren fühle ich mich alt und verbraucht. Aber ich bin keine dreißig. Mein Gott, ich bin keine dreißig. Und ich habe sogar Angst vor meiner eigenen Tochter.

 

Morten

Kora ist meine Tochter. Ich bin unschuldig. Ich würde mir eher die Hand abhacken lassen.

 

Kora

Würde es dir helfen, nicht unschuldig im Gefängnis zu sitzen?

 

Gerd

Hängen rechnet sich nicht. Kaufmännisch gesehen ist Hängen Unsinn.

 

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Wolfram von Stauffenberg

Ich bin Schauspieler. Leider ging ich mit der Frau des Intendanten ins Bett. Es geschah auf seinem Schreibtisch. Nach einer Premièrenfeier. Ich sagte ihm, es ist nicht das, wonach es aussieht. Am nächsten Morgen habe ich die Rolle des Türstehers bekommen.

 

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Unabhängige Künstler, die weder für den Markt, noch für den Bischof, für den Kanzler oder gar für die Kuratoren arbeiten, werden sich durchsetzen. Ich glaube an das Genuine, man könnte fast schon sagen, an ein allgemein menschliches Verlangen: Unabhängigkeit im Sinne von Freidenkertum. Das ist einzige, was in der Kunst je gezählt hat. (...) Alles andere war immer schon Plunder.

Bazon Brock

Deutschlandfunk, 9. August 2017

 

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Filme im Kino haben drei Vorleben: Schreiben – Arbeit über dem leeren Blatt Papier, bis hundert Seite voll sind. Drehen – hundert Leute vor und hinter der Kamera; jeder hat eine Frage, jederzeit. Montage – das beste überhaupt; zwei Leute spielen Gott am Schnittplatz und schaffen hundert Minuten Welt.

Urs Odermatt

 

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„Achtung! Casting“ – sehr stark, Mannomann, ein Kracher!

Thomas Bohn

Snowdance Independent FIlm Festival

 

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Über 600 Schauspieler wollten zum Film – jetzt sind 203 Schauspieler im Film!

  Nils Willers, Schauspieler

 

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Schauspieler müssen das erst einstecken: Bei Urs Odermatt ist keiner die Hauptrolle. Die Hauptrolle sind seine Texte.

Michael Ransburg, Schauspieler

 

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Nach einem Drehtag mit Urs Odermatt fällt man in jedes Bett, das sich bietet.

Sabine Martin, Schauspielerin

 

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Was für eine intensive Zeit war das mit Euch! Alter Schwede, ich hab’ es unterschätzt, wie aufwühlend die Arbeit als Einsprecher ist.

Roberto Guerra, Schauspieler

 

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Lieber Urs,

(...) ich wollte Dir noch einmal sagen, daß ich den Einblick in Deine Arbeitsweise sehr genossen habe. Trotz der vielen Kandidaten

herrschte ein Respekt, der nicht selbstverständlich ist. Für mich war das Einsprechen ein richtiger Trip, den ich nicht so schnell vergessen werde. Er hat mir Lust auf mehr gemacht! Von daher: Falls Du in Deinem Projekt eine Rolle für ich siehst: Ich wäre gerne dabei!

Andreas Stadler, Berlin

E-Mail vom 23. Januar 2015

 

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Schauspielkunst der obersten Liga – und die glühende Spielwut der neuen Gesichter.

Beni Müller, Filmwissenschaftler

 

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Ein echtes Kunstwerk ist da gelungen. Ich bin begeistert! Solche Filme werden immer seltener und – wenn nicht im geheimen produziert – bald ganz aussterben.

Steff Gruber, Regisseur

 

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Wenn Du schon, kurwa mać, alles inszenierst ohne viertes Wand, solltest Du wenigstens wissen, daß es gibt sie.

Edward Żebrowski, Warschau

Regielehrer von Urs Odermatt

 

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Casting als performative Installation.

Urs Odermatt

 

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Stimmt es, daß Schauspielerinnen nackt vorsprechen werden?

Florian Banicki, Kamera

 

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Wie es ist, vor der Kamera mit beinahe vier Mal fünfzehn fünfzehn nackt zu spielen? Einmalig. Nur Urs Odermatt kommt auf diese Idee.

Sabine Martin, Schauspielerin

 

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Ich hänge jede Unterstützung an die große Glocke. Oder schweige wie ein Grab. Ganz nach Ansage.

Jasmin Morgan, Produzentin

 

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Simon

Mein ganzes Leben habe ich auf See verbracht. Wer da draußen keine Angst hat, stirbt. Man muß Respekt haben vor der See. Mut schadet nicht. Aber wer keinen Respekt hat, wird es bitter bereuen.

 

Linda

„Viktoria“. Dein Schiff hieß auch „Viktoria“, nicht wahr?

 

Simon

Es war das Schiff meines Vaters.

 

Linda

Er hat es dir gegeben.

 

Simon

Es ist trotzdem seines geblieben.

 

Linda

Es ist gesunken.

 

Simon

Ein Schiff sinkt nicht. Es stirbt. Der Tod auf See hat einen Namen. Wie eine Landschaft in einem fremden Land. Aber er ist eine Bestie. Der Tod auf See ist eine Bestie mit Zähnen wie Glasscherben. Der Tod auf See heißt Plateau des Minquiers.

 

Linda

Ein Riff?

 

Simon

Bei Flut sind es nur ein paar winzige Felsen. Kaum Platz genug für eine Boje oder eine Flagge. Aber bei Ebbe! Bei Ebbe werden die Felsen zu Tausenden von gefräßigen Zähnen. Zähnen aus Granit. Zähne aus dem härtesten Stein der Welt. Bei Ebbe ist das Plateau des Minquiers eine Steinwüste von der Größe Liechtensteins. Wehe, du bist ein paar Minuten zu spät. Dann kannst du nur noch beten. Du siehst nichts als Wasser und weißt, du bist schon verloren. Die Strömung gibt dir keine Chance. Du weißt, jeden Augenblick wird er aus den Fluten auftauchen. Der Rachen des Plateaus des Minquiers. – Eines Tages  kam ein fremdes Boot, und mein Vater sagte: Das ist Anna. Und Annas Vater sagte zu Anna: Das ist Simon, und er wird dich heiraten. Die Väter haben die Hände geschüttelt. Sie waren zusammen zur See.

 

Linda

Das ist ja furchtbar.

 

Simon

Was ist daran furchtbar?

 

Linda

Dieser Kuhhandel.

 

Simon

Furchtbar ist, daß keine Stunde vergeht, wo mir Anna nicht fehlt.

 

Linda

Ich habe nie erfahren, warum sie gestorben ist.

 

Simon

Sie war krank. Sie hat nie darüber gesprochen. Ich habe sie nie danach gefragt. Sie hätte es nicht gewollt.

 

Linda

Hast du nie von der Liebe geträumt?

 

Simon

Liebe? Wir haben miteinander das Leben verbracht. Wir haben füreinander gesorgt. Wir sind miteinander alt geworden. Was kann denn mehr sein?

 

Linda

Die freie Wahl.

 

Simon

Ein Mann liebt sein Schiff. Ein Mann liebt seinen Sohn. Kein Vater schickt seinen Sohn zum Juden, wenn er ihm sein eigenes Schiff geben kann. Das Schiff, das er kennt.

 

Linda

Und wenn sich der Vater täuscht?

 

Simon

Und wenn du dich täuschst? Wenn du die falsche Wahl triffst? – Ich hatte ein gutes Leben. Anna hatte ein gutes Leben. Wirst du das einst sagen können?

 

*

 

Ich bin kein Dienstleister. Ich bin nicht Pfadfinder des Guten. Meine Empathie gilt der Suche nach einer disruptiven Dramaturgie, der  Suche im autopoietischen Dialoghades und der Suche nach dem zwingenden Rhythmus.

Urs Odermatt

Kora in Produktion