Ein Stück Verkehrs- und Straßenbaugeschichte wird lebendig: Die Lopperautobahn mit neuer Achereggbrücke wurde 1962 bis 1965 gebaut. Für Nidwalden war dieses Bauwerk wie ein Tor zur Welt. Josef von Matt und Arnold Odermatt haben dazumal diese Pioniertat filmisch festgehalten. Mit Hilfe von Sohn Urs Odermatt ist nun ein beeindruckendes Bilddokument aus altem und farbigem neuem Material geschaffen worden: Lopper, vom 3. bis 6. Oktober im Kino Buochs zu sehen, später dann, 5. bis 10. November, im Kino Seefeld, Sarnen.
Heute sei diese Begeisterung für einen Autobahnbau wohl unverständlich, meinte Buchhändler Josef von Matt anläßlich einer Pressevorführung des Dokumentarfilms Lopper vor einigen Wochen im Kino Buochs. Aber damals, 1954, als die Nidwaldner den Autobahn- und Brückenbau (Achereggbrücke) beschlossen haben, sei eine andere Stimmung gewesen. „Ich hatte mich schon längst mit diesem Anschluß an die übrige Schweiz befaßt, sah eine unwiederbringliche Chance und freute mich am eindeutigen Mehr, das an der Landsgemeinde für Bahn und Straße gesprochen wurde. Ich würde meinen“, berichtete Josef von Matt, „daß besonders über das schwierige Stück zwischen Hergiswil und Stansstad eine Dokumentation entstehen sollte.“
Geplant, getan. Zusammen mit dem späteren Chef der Verkehrs- und Sicherheitspolizei Nidwalden, Arnold Odermatt, einem begeisterten Photographen, der Mitte der fünfziger Jahre so etwas wie eine Schnupperlehre als Kameramann beim Schweizer Fernsehen machte, wurde dieser Wunsch umgesetzt. Wir sehen die alte Achereggbrücke, erleben den parallelen Neubau, die problematische Verkehrsregelung von Fahrzeugen und Schiffen. DS „Gallia“ rauscht vorbei, gut dreißig Jahre jünger. Bald alle fünfzehn Minuten wurde der Verkehr gestoppt, die alte Brücke hochgeklappt. Die alte und neue Achereggbrücke standen eine kurze Zeit nebeneinander, bis dann die alte abgerissen wurde. Ein höchst wichtiger Verkehrsstrang: Zwei Fahrbahnen (Autobahn und Kantonsstraße) und eine Gleisanlage überqueren an dieser Stelle den See.
Die meisten Arbeiter, die dieses Verkehrswerk mit ihrer Hände Arbeit vollendeten, seien tüchtige Italiener gewesen, weiß Kommentator Tino Arnold zu berichten. Während der ganzen Bauzeit seien drei Menschen ums Leben gekommen. Drei Kilometer Film sind über dieses schon historische Projekt belichtet worden. Josef von Matt ließ den Film nach Vollendung dieses Autobahnteilstücks von einem TV-Kameramann schneiden. Leider sei das Resultat wenig befriedigend gewesen. Josef von Matt: „Beim Kanton Nidwalden hatte niemand Interesse an unserem Produkt, so daß wir den Film behielten, wie er war. Viele Jahre später setzte dann Arnold Odermatt alle Enden wieder zusammen, und sein Sohn Urs Odermatt nahm einen Rohschnitt vor.“ Kantonsingenieur Reto Zobrist erkannte den dokumentarischen Wert. Das wertvolle Filmmaterial wurde nun in Form gebracht. Urs Odermatt, versierter Regisseur (Gekauftes Glück), fügte ein paar Farbsequenzen von heute bei und gestaltete den endgültigen Lopper-Film. Kantonsingenieur Heinz Meier hat einen entsprechenden Text verfaßt. Das halbstündige Bildzeugnis wird nicht nur die ältere Generation interessieren, welche den Lopperbau sozusagen live erlebt hat, sondern auch jüngere Zuschauer packen.
Rolf Breiner
Filmisches Denkmal für Lopperautobahn
Luzerner Tagblatt, 2. Oktober 1991
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Begeistert vom damaligen Autobahnbau am Lopper hatten sich zu Beginn der sechziger Jahre der Stanser Buchhändler Beppi von Matt und der Polizist Arnold Odermatt zusammengetan, um dieses Ereignis filmisch festzuhalten. Knapp dreißig Jahre wurde das Filmmaterial gelagert, ohne daß etwas damit passierte. Nun wurde es unter der Leitung von Regisseur Urs Odermatt verarbeitet: Der rund 30minütige Film Lopper hat am Wochenende in Buochs seine Uraufführung.
Für den Bau der Lopperautobahn wurden einige Jahre gebraucht. Wenige Personen nur konnten sich erinnern, daß die gesamten Arbeiten des Straßenstückes zwischen Hergiswil und Stansstad filmisch festgehalten wurde. Die Initiative für diese Arbeit ging damals vom Stanser Buchhändler Beppi von Matt aus.
Wie es zu den Filmaufnahmen kam, erklärt Beppi von Matt heute so: „Damals nahm das Schweizer Fernsehen seinen Anfang, und ich durfte als freiwilliger Programmvermittler für die Innerschweiz kleine Beiträge anregen. Weil es aber sehr oft hieß, daß kein Kamerateam vorhanden sei, Regisseur oder Beleuchtung fehle, arbeitete ich mit der Kamera eines befreundeten Fernsehkameramanns, die ich erst mietete und dann kaufte.“ Ein Chefkameramann bildete zu dieser Zeit Laienkameraleute aus. Beppi von Matt konnte Arnold Odermatt für einen solchen Kurs gewinnen, der die Ausbildung mit großem Erfolg beendete. Da er der einzige war, der soviel Qualität zeigte, wurde er für Beiträge des Schweizer Fernsehens eingesetzt, erzählte der Buchhändler gegenüber unserer Zeitung.
Bei den Filmaufnahmen an der Lopperautobahn konnte sich das Team von Matt und Odermatt auf die Mithilfe des damaligen Kantonsingenieurs Heinz Meier und seiner Gehilfen verlassen. Sie meldeten jeweils, wenn etwas Spektakuläres geschah. Noch einige Probleme waren zu lösen. Arnold Odermatt hatte seinen Polizeidienst zu tun. „Er ließ sich nie von mir überreden, zu schwänzen oder Dienst und Filmen zu verbinden“, erinnert sich Beppi von Matt. Nur einmal wurde auf die Hilfe der Polizei zurückgegriffen: „Als die Brücke beim Acheregg fertig war, wurde auf allen Seiten, das heißt auf Autobahn und Lokalstraße, aber auch bei der LSE der Verkehr gestoppt, damit möglichst viel Verkehr mit Bahn, Autobahn, Lokalstraße und Schiffspassage zu sehen ist.“
Morgen hat Lopper Uraufführung im Kino in Buochs. Verantwortlich für die Gestaltung zeichnete Arnold Odermatts Sohn Urs Odermatt, Regisseur von Gekauftes Glück. Er hatte das alte Filmmaterial, das während Jahren gelagert wurde und in einen schlechten Zustand geriet, durchgearbeitet, zum Teil neu kopiert und dann zusammengeschnitten. Der Text zum Film wurde vom ehemaligen Kantonsingenieur Heinz Meier geschrieben, gesprochen wird er von Tino Arnold.
Als Dokumentation über die Erschließung Nidwaldens sowie über die Kunst der damaligen Straßenbauten ist der Film von außerordentlichem Wert.
Thomas Zemp
„Lopper“ – Filmisches Dokument des Baus
Vaterland, Luzern, 2.Oktober 1991
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Wer heute über die Achereggbrücke fährt, denkt kaum an die Probleme, die frühere Überquerungen der See-Enge auslösten. Vielmehr ist man überrascht zu vernehmen, daß es hier erst seit Mitte des letzten Jahrhunderts eine Brücke gibt.
Die Acheregg bei Stansstad war früher ein nicht zu überwindendes Hindernis. Die Erbauer der Loppburg über dem Acheregg mußten allerdings nach Stansstad, weshalb Ende des 12. Jahrhunderts bei der Acheregg eine Brücke gebaut wurde. Damals hatte man für den Seeweg von Obwalden nach Luzern noch keine Dampfschiffe. Für die Nauen war die Brücke gut passierbar. Als die Vögte vertrieben waren, verlor auch die Loppburg an Bedeutung und ist heute nur noch im Fundament erkennbar. Die Brücke verschwand, und erst Mitte des letzten Jahrhunderts wurde der Brückenschlag bei der Acheregg wieder aktuell. Dem ging eine Straßenposse voraus: Die Berner Oberländer und Obwaldner wollten auf dem Landweg schneller nach Luzern kommen. Nidwalden machte den Vorschlag, diese Straßenführung über Kerns, Stans nach Beckenried zu führen und von hier mit dem Schiff nach Luzern. Dies betrachteten die Obwaldner als Umweg, weshalb sie mit den Bernern ein Projekt mit der Linienführung entlang dem Lopper vorlegten. So kam es zum Bau der Brünigstraße von Alpnach entlang dem Lopper nach Hergiswil. Die Nidwaldner wurden eingeladen, bei diesem Projekt mitzuarbeiten und sich finanziell zu beteiligen. Die damalige Regierung sah keine besonderen Vorteile, eher das Gegenteil, weil der Verkehr vom Brünig über Nidwalden zum Gotthard abnehmen könnte. Die Straße entlang dem Lopper von Alpnach nach Hergiswil wurde in den Jahren 1857 bis 1862 ohne Beteiligung von Nidwalden gebaut. Dagegen wurde Nidwalden für die Straße auf dem eigenen Kantonsgebiet unterhaltspflichtig.
Der damit vor der Haustür vorbeiführende Weg, der bei jedem Wetter begangen werden kann, stach die Nidwaldner, weshalb man dran ging, den Brückenschlag zur Acheregg erneut zu überlegen. Allerdings war es nicht einfach, von der Schifflände durch das Ried eine Straße zu bauen. Im Gegensatz zur Zeit der Loppburg hatte sich die Schiffahrt mit Dampfschiffen nach Alpnach entwickelt, Der Bund bewilligte für eine Brücke den Beitrag von 20’000 Franken. Dieser war allerdings mit der Auflage verbunden, daß die Dampfschiffe weiterhin nach Alpnach verkehren können. Der damalige Baudirektor Kaspar Blättler, Unternehmer im Rotzloch, übernahm den Bau einer Zugbrücke für 31’000 Franken. Ein Sechsspänner mit hundertfünfzig Zentnern Last übernahm die Belastungsprobe. 1888 gab es die erste Drehbrücke, das heißt, das Brückenteil wurde nicht mehr hochgezogen, sondern weggedreht. Dabei wurde die Schiffahrtsöffnung auf achtzehn Meter erweitert. Die Brücke durfte nur mit Fahrzeugen bis vier Tonnen befahren werden. In den Jahren 1913/14 wurde eine neue Drehbrücke gebaut. Das 181 Tonnen schwere Brückenteil wurde nicht mehr von Hand, sondern durch einen 4,5 PS-Elektromotor weg und wieder zurück gedreht.
Die Mitte dieses Jahrhunderts stark zunehmende Motorisierung führte beim Öffnen der Drehbrücke für die Schiffahrt zu immer längeren Kolonnen von wartenden Fahrzeugen. Dies allein hätte noch nicht für eine neue Brücke gereicht, vielmehr war es die Meinung des Nidwaldner Volks, sich mit Bahn und Straße den Weg nach außen wie nach innen aufzutun. Treibende Kraft war die Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung. Einmal mehr war Phantasie und Können bei der Acheregg gefragt, denn nicht nur die Straße, auch die Bahn mußte über diese See-Enge geführt werden. Im Zuge des Nationalstraßenbaus wurde für die Überquerung der See-Enge beim Acheregg in den fünfziger Jahren eine großzügige neue Brücke geplant. Sie hatte neben der Gotthardautobahn A2 auch die Luzern-Stans-Engelberg-Bahn sowie die Lokalstraßenerbindung aufzunehmen.
1960 führte das Kantonsingenieurbureau Nidwalden einen Projektwettbewerb unter fünf eingeladenen Ingenieurbureaux durch. Daraus ging das Projekt von Bänziger und Toscano siegreich hervor. Das im Mittel einhundertneunzig Meter lange und 33,50 Meter breite Bauwerk liegt mit seiner Unterkante so hoch über dem Hochwasserspiegel des Vierwaldstättersees, daß in der größten Öffnung die umgebauten Passagierschiffe unbehindert durchfahren können. Das Schiffahrtsprofil ist vierzig Meter breit und 7,50 Meter hoch. Auf der Westseite wird die Lopperstraße, auf der Ostseite die Anschlussstraße Stansstad überbrückt. Durch die zum voraus festgegebene Lage dieser zwei Straßen und der Schiffahrtsöffnung wurde das Projekt der Achereggbrücke weitgehend bestimmt.
Eine entscheidende Rolle spielte der Baugrund. Er ist eine geologisch noch junge Deltaablagerung der Engelberger Aa und besteht aus lockerem Kiessand, Silt, tonigem Silt und Beimengungen aus organischem Material. Felsuntergrund ist nur im Bereich des westlichen Widerlagers in größerer Tiefe vorhanden.
Da mit großen und stark unterschiedlichen Setzungen gerechnet werden mußte, ist der Überbau durch Anordnung von zwei Einhängeträgern im zweiten und vierten Feld, als sogenanntes Gerberträgersystem ausgebildet worden. Die Einhängeträger sind gelenkig gelagert, so daß die Überbauträger der Setzungsdifferenz, abgesehen vom Einfluß der Schiefe, nahezu ohne Zwängungen folgen können. Die Setzungen wurden vorausberechnet und die Pfeiler und Widerlager entsprechend höher ausgeführt. Die tatsächlich gemessenen Setzungen stimmten relativ gut mit den Prognosen überein. Sie betrugen bis 1965 im Minimum einen Zentimeter beim Pfeiler zwei und im Maximum 18,2 cm beim Widerlager Stansstad. Sie sind bis heute noch nicht abgeklungen.
Die Wahl des geeigneten Systems war eines der Hauptprobleme beim Projekt der Achereggbrücke. Der Projektverfasser entschied sich für eine hochliegende Flachfundation mit kleinen Bodenpressungen, die mittels Druckluftcaissons realisiert wurde. Die Caissons sind aus Stahlbeton konstruierte Kisten, die unten offen sind und unter Druckluft vorwiegend mittels Handaushub langsam abgesenkt werden. Sie wurden mit Grundflächen von 16 x 8 bis 16 x 12 Metern möglichst leicht konstruiert und sind nach oben mit Rippen ausgerüstet, auf denen die Pfeiler abgestützt werden. Der große Vorteil liegt darin, daß während des Absenkens in der unter Druckluft stehenden Arbeitskammer das Bodenmaterial von Erdbauspezialisten beurteilt werden konnte. Der Entscheid über die definitive Fundationskote wurde bei jedem Caisson mit maßgeblicher Mitwirkung des Experten Prof. G. Schnitter von der ETH Zürich getroffen.
In den fünfunddreißig Jahren seit Inbetriebnahme der Brücke hat sich die Fundation sehr gut bewährt. Weil die Setzungsprognosen im großen und ganzen stimmten, mußten bis heute keine Nivellettenkorrekturen vorgenommen werden, lediglich bei der Lokalstraßenbrücke waren auf der Stansstaderseite zu große Verdrehungen mittels Lagerkorrekturen auszugleichen. Alle Lager sind so konstruiert, daß Korrekturen infolge zu großer Setzungsdifferenzen längs oder quer auf einfache Art ausgeführt werden können.
Der Überbau besteht aus drei getrennten Tragwerken mit konstanter Höhe, je einem einzelligen Hohlkastenträger von 9,10 Metern Breite für die beiden Autobahnrichtungen und einem 14,50 Meter breiten dreizelligen Hohlkastenträger für die Eisenbahn und die Lokalverkehrsstraße gemeinsam. Diese Aufteilung war wegen der unterschiedlichen Längenprofile und der variablen Querneigungen der einzelnen Verkehrsträger notwendig. Die Idee, Bahn und Lokalstraße auf einen gemeinsamen Träger zu legen, war wettbewerbsentscheidend. Durch die Querverteilung der hohen Eisenbahnlast konnte der Straßenträger für das Tragen der Eisenbahn herangezogen werden, was sich wirtschaftlich wie bauzeitmäßig optimal auswirkte. Alle drei Tragwerke sind in der Längsrichtung nach dem Schweizer System BBRV mit 220-t-Kabeln voll vorgespannt, in der Querrichtung lediglich schlaff armiert.
Wo gibt’s das heute noch, daß vom Start eines Brückenwettbewerbs bis zum Baubeginn nur zehn Monate vergehen? Dabei handelte es sich um ein in der Projektierung wie in der Bauausführung sehr komplexes und schwieriges Bauvorhaben. Wie die Erfahrung der letzten fünfunddreißig Jahre zeigt, hat sich das Bauwerk in technischer Hinsicht wie in seiner Dauerhaftigkeit bewährt und bezüglich ästhetischer Gestaltung und Einpassung in die bestehende Landschaft die Erwartungen erfüllt. Die gesamte Bauzeit betrug rund dreieinhalb Jahre. Das Bauprogramm war so gestaltet, daß die Schiffe jeweils von Frühjahr bis Herbst ungehindert durchfahren konnten.
Werner Flury
Redaktor Neue Nidwaldner Zeitung
A2-Infoblatt 2, Tiefbauamt des Kantons Nidwalden, Stans, 30. April 1999
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In Lopper hielt Arnold Odermatt mit einer stummen Paillard-Bolex-Schmalfilmfederwerkkamera auf 16mm-Schwarzweißumkehrfilm verschiedenster Sortierung ‒ was der Schlußverkauf am Dorfmarkt im Angebot feil bot ‒ den Bau der ersten Schweizer Autobahn fest und kannte qua Polizeiuniform keine Baustellensperre.
Urs Odermatt
Kunsthalle Erfurt, 2020
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Ich würde „genuin dokumentarisch“ in Frage stellen, denn Arnold hat nicht gedreht, wenn die Wirklichkeit der Arbeiten stattfand. Er hatte einen unerbittlichen Einsatzplan und mußte arbeiten. Nein, die Wirklichkeit hat sich seinem Dienst auf Streife angepaßt – war amtlich tote Hose, kletterte er ohne Voranmeldung, in Polizeiuniform selbstverständlich, auf den Baukran und ließ den Vorarbeiter spontan „Arbeit ansagen“, die vor der Kamera gut aussieht. Zeitlich verschobene Wirklichkeit auf „Bitte!“
Urs Odermatt
E-Mail an Michael Birkner, 23. November 20120
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Polizisten machen mich eifersüchtig. Können für ein Photo alles sperren. Sogar die Autobahn.
John Waters
Fotomuseum Winterthur, 2004
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Wie André Amsler kürzlich Josef von Matt telephonisch mitteilte, ist das von Ihnen gedrehte Material „Rütlischießen“ recht gut geworden. Ich mache Ihnen gerne das Kompliment, daß das von Ihnen gedrehte Material wohl bisher das einzige brauchbare ist, das ich von allen Teilnehmern des Kamerakurses erhalten habe. Bei einiger Routine glaube ich, daß wir eine erfreuliche Zusammenarbeit haben können.
Ich war richtig erstaunt, nach den ersten Aufnahmen, die ich von Ihnen damals in Engelberg gesehen habe, jetzt dieses wirklich gute Material zu erhalten. Ich möchte Ihnen gerne dazu gratulieren.
Robert D. Garbade
Cheffilmreporter Schweizer Fernsehen
Zürich, 21. November 1961
Landjäger mit Kamera
Als ich mich 1947 als 22jähriger für die Stelle als Polizist in Stans bewarb, fand ein gewisser Politiker, ich hätte ein zu weiches Herz für diesen Beruf, aber das könne sich ja ändern. Zweiunddreißig Männer hatten sich für diesen Job gemeldet, ich wurde schließlich ausgewählt. Meine Französischkenntnisse sollen den Ausschlag gegeben haben. Als Polizeirekrut bekam ich fünf Franken pro Tag, das Anfangsgehalt lag bei dreihundertachtzig Franken im Monat. Damals hießen wir noch Landjäger.
Ganze sechshundertfünfzig Motorfahrzeuge waren im Kanton Nidwalden gemeldet, über die Hälfte Lastwagen und Motorräder. Die Autofahrer kannte ich fast alle persönlich. Während heute ein Großteil der Unfälle mit Blechschaden endet, kostete es früher oft Tote und Schwerverletzte. Geschwindigkeitsbeschränkungen gab es keine; durch die Dörfer ging es mit Vollgas. 1948 starben in Nidwalden bei neunzig Unfällen zehn Menschen. Den Hinterbliebenen die traurige Nachricht zu überbringen – das blieb meine schwerste Aufgabe.
Wir waren im kantonalen Korps zu neunt und als Dienstfahrzeuge dienten unsere privaten Velos: Es machte wenig Sinn, einen Autofahrer jagen zu wollen. Aber 1949 geschah dann das Unglaubliche – wir bekamen einen Chevrolet, einen Occasionswagen mit dem Kennzeichen NW 44! Daß die Polizei nun blitzartig überall sein konnte, darf man aber nicht denken. Bei Unfällen dauerte es bis zu einer Stunde, bis wir vor Ort waren. Unser Pikettdienst hieß: „Sei das ganze Jahr rund um die Uhr erreichbar!“ Wir waren Kripo, Verkehrspolizei, Seepolizei und Sicherheitspolizei in einem. Oft wurde ich nachts aus dem Schlaf geklingelt – meine Frau natürlich auch! Wir besaßen damals nur eine einzige Uniform. Die Schreibmaschine mußten wir selbst mitbringen, die Handschellen auch.
Ich habe mit meiner 6x6-Mittelformatkamera bei Unfällen Bilder gemacht. Was dem Chef gar nicht paßte! Ich habe die Unfallautos dann halt privat photographiert – aus eher unpolizeilichen Perspektiven und Distanzen. Die Photos, als „manipulierbar und ohne Beweiskraft“ abgelehnt, wurden mit der Zeit akzeptiert, und ich durfte auf dem Kommandoposten eine Besenkammer in eine Dunkelkammer umrüsten. Mit der Photokamera, später auch mit der Filmkamera, war ich viel unterwegs, als die Lopperautobahn gebaut wurde.
Anfang der fünfziger Jahre nahm der Verkehr sprunghaft zu. Vor allem sonntags war die Lage auf der Kantonsstraße am Lopper katastrophal. Es kam zu Staus von Luzern bis Wolfenschiessen. Weder das Postauto noch die Ambulanz kamen durch. Leute reisten an, um die Staus anzuschauen! Die Achereggbrücke, damals eine Schwenkbrücke, war eine kritische Stelle, weil sie für eine Viertelstunde unbefahrbar war, wenn ein Schiff die See-Enge bei Stansstad querte. Wenn ich an Sonntagen da den Verkehr regelte, arbeitete ich von halb zehn morgens bis zehn Uhr abends – ohne Ablösung. Das ist heute kaum noch vorstellbar, aber damals war ich sogar stolz darauf, daß es ohne uns nicht ging.
Das zur Regel gewordene Chaos veranlaßte die Nidwaldner schließlich, auf eigene Faust eine Autobahn zu bauen. Topographisch hätte man kein schwierigeres Gelände wählen können. Tunnels, Brücke und Lehnenviadukt mußten auf engstem Raum zwischen See und Berg konstruiert werden. Spektakuläre Baumethoden, die heute abenteuerlich anmuten, kamen neu zur Anwendung. Auf den Photos und im Film sieht man immer wieder die Italiener – viele rauchend –, die nichts auf dem Kopf oder nur Hüte oder Mützen tragen. Kein Helm weit und breit! Drei Tote gab es bei den Bauarbeiten. Damals war auf den Baustellen weit mehr körperlicher Einsatz nötig als heute.
Eindrücklich sind noch heute die Gerüste und Verschalungen aus Holz, richtige Werke der Zimmermannskunst. Man darf nicht vergessen, daß der Verkehr die ganze Bauzeit hindurch weiterrollte und nie zu stark behindert werden durfte. An der neuen Achereggbrücke, die neben der alten errichtet wurde, blieb bis kurz vor Schluß eine Lücke für die Schiffe frei. Nachdem diese geschlossen wurde, konnten von den großen Schiffen nur noch jene passieren, die mit kippbaren Kaminen ausgerüstet waren.
Die Bauarbeiten an der Brücke habe ich aus der Höhe photographiert, regelmäßig vom gleichen Standort. Diese Bilder, schnell hintereinandergereiht, haben die Wirkung einer filmischen Zeitlupe, sie wurden sogar in Japan gezeigt. Von vielen Motiven, etwa den Autounfällen, habe ich immer nur ein einziges Bild geschossen. Das war für mich die beste Schule, die es gab. Du hast eine Familie, sagte ich mir jeweils, jeder Schuß kostet dich eine halbe Stunde Arbeit.
Als das Lopper-Bauwerk 1963 eingeweiht wurde, herrschte große Begeisterung. In Hergiswil wurden Wohnungen „mit direktem Blick“ auf die Autobahn angeboten. Der Verkehr war erst moderat. Um werktags drei oder vier Autos auf ein Photo zu bringen, mußte ich lange warten. Das hat sich geändert; daß Lastwagen kommen würden, hat keiner vorausgesehen. Man hatte mit Gütertransport zwischen Nidwalden und Luzern gerechnet. Es rollte aber ein ganz anderes Volumen heran. Die Begeisterung flaute ab, auf Balkonen in Autobahnnähe wehten schwarze Fahnen.
Arnold Odermatt
Das waren noch Zeiten...
notiert von Gallus Keel
Band 3, Zeitlupe, Zürich 2007
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„An Bußen war gar nicht zu denken; auf unseren Fahrrädern holten wir gewiß kein Auto ein, höchstens einen Velofahrer ohne Licht: Die hatten wir im Griff!“
Balz Theus
Ein Tag im Leben
Das Magazin, Zürich, 24/2001
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„Damals gab es noch die Drehbrücke von 1914, die fünfzig Jahre gute Dienste leistete“, berichtet Arnold Odermatt. „Wenn ein Dampfschiff wie die ‚Gallia‘ passieren wollte, wurde der drehbare Teil von Brückenwart und ‚Acheregg‘-Wirt Jost Hermann per Elektromotor zur Seite geschoben.“ Auf der Brücke habe es eine Barriere mit Vorhang gegeben. Trotzdem sei es vorgekommen, daß unvorsichtige Velofahrer oder Fußgänger aus rund sieben Metern Höhe ins Wasser gefallen seien. Bis ein Schiff die See-Enge gequert hatte, mußten sich Automobilisten gegen fünfzehn Minuten in Geduld üben. Odermatt entsinnt sich, wie das Warten bereits zu dieser Zeit vielen Leuten schwerfiel.
Als das Nidwaldner Volk 1954 an der Landsgemeinde entschied, Autobahn und Bahnverbindung nach Luzern – damals unter Baudirektoren wie Remigi Joller und August Albrecht – vorerst auf eigene Faust in Angriff zu nehmen, begann nicht nur die Karriere von Arnold Odermatt als Polizeiphotograph. Nein, auch jene als Filmer fürs Schweizer Fernsehen. Dieses hatte sein einzigartiges Talent während eines Kurses entdeckt. Initiant Beppi von Matt kaufte eine Occasionsfilmkamera, und bald begann das Abenteuer. Mit von Matt als Produzenten und Odermatt als Kameramann wurde die sensationelle Baugeschichte der Achereggbrücke dokumentiert und in alle Landesteile ausgestrahlt. Dabei scheuten die beiden vor nichts zurück. „Als uns fröhliche italienische Gastarbeiter ‚Vieni! Cho! Filmä!‘ zuriefen, stiegen wir mit Lampe und Filmkamera im Inneren einer Betonröhre neun Meter unter den Wasserspiegel“, erinnert sich Odermatt. „Der Druck des Wassers hätte uns die Lunge zerreißen können!“ Oft fragten Zuschauer, wie Odermatt zu diesen gewaltigen Aufnahmen gekommen sei – „ein Kran hat mich in einem Korb über der Baustelle baumeln lassen“.
Romano Cuonz
Luzerner Zeitung, 29. Oktober 2016
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Arnold Odermatt war nie zu überreden, den Polizeidienst zu schwänzen. Sonst hätten wir viel mehr Filmmaterial gedreht.
Josef von Matt
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Nidwalden bekommt Anfang der sechziger Jahre die erste Schweizer Autobahn. Vorher Sackgasse und nur über die Schwenkbrücke am Lopper erreichbar, wird Nidwalden Schweißnaht zwischen Deutschland und Italien. Das mußte für die Nachwelt festgehalten werden. Wer das am besten könne, war damals nicht die Frage. Es gab niemanden. Ich war der einzige, der mit einem Photoapparat umgehen konnte.
Der Stanser Buchhändler Josef von Matt hat eine Bolex-16-mm-Kamera mit Federwerk und umklappbarer Handkurbel aus zweiter Hand und ein paar 30-Meter-Dosen Schwarzweißumkehrfilm gekauft, und er hat mir alles in die Hand gedrückt. Bedienungsanleitung gab’s nicht. Nur Probieren. Die Polizeiuniform hat auf der Autobahnbaustelle geholfen. Niemand stellte Fragen. Ich trug die Uniform immer. Dienstpläne gab es keine. Dienst war, wenn Dienst anstand. Da ich der jüngste war, klingelte der Polizeinotruf außerhalb der Bureauzeiten in unserem Schlafzimmer. Sonst hätte ich wohl mehr als einen Regisseur gezeugt.
Arnold Odermatt
Galerie Springer Berlin