Gitterschranken grenzen die Spielfläche rundum ein, neun Menschen in papierraschelnclen Kostümen mit aufgedruckten Seiten von Boulevardzeitungen liegen am Boden, unruhig, wie in schwerem Traum. Ihr Schlaf ist den Zuschauern ausgesetzt, die etwas erhöht hinter den Abschrankungen sitzen. Wie das Licht ausgeht, rappeln sie sich auf, ein Murmeln wird vernehmbar, wird langsam verstandlich, steigert sich zu rasantem, schreiendem Staccato: „Ich bin, ich war, ist alles schnell vorbei.“ Ein Mann löst sich aus der Gruppe, schildert mit abgerissenen, schnell herausgestoßenen Satzfetzen seinen Zustand – Drogen, Fixen, Weggleiten in eine euphorische, irreale Welt, Zurückfallen in die Erbärmlichkeit der alltäglichen Existenz am Rand des Abgrunds.
Trainspotting von Irvine Welsh und Harry Gibson nach Welshs gleichnamigen, 1993 erschienenen Roman erlebte am Donnerstag im Studio des Theaters St. Gallen seine Schweizer Erstaufführung in einer Inszenierung von Gastregisseur Urs Odermatt. Vorgeführt werden Szenen aus dem Alltag von neun Drogensüchtigen, Erinnerungen an frühere Jahre, an vergebliche Versuche, sich aufzufangen, wegzukommen von der Sucht, eine Stelle zu finden, Begegnungen mit einer Mutter, die ihrem Kind helfen will, sexuelle Beziehungen.
Realität, umgesetzt in die Irrealität einer gnadenlosen Choreographie und in eine Sprache von manchmal kaum mehr erträglicher Direktheit bis hin zur Fäkalsprache und zugleich völliger Künstlichkeit. Eine Sprache, die in ihrer rhythmisierten Durchformung, in Wiederholungen und Überlagerungen einzelner Wörter und Satzfetzen, in gestotterter Zerstückelung oft kaum mehr verständlich ist. Eine Sprache aber auch, die sich auf jene der Körper überträgt, auf Gesten, Bewegungen, Haltungen, auf zuckende und zitternde Glieder, auf körperliche Nähe, die in ihrer Verhülltheit oft entblößter und irritierender wirkt, als es Enthüllung vermöchte. Ein irrwitziges Ballett äußersten Ausgesetztseins, das sich mit seinen Bildern, seinen Wörtern und Sätzen, seiner bedrängenden Dichte auf die Zuschauer überträgt, sie unmerklich (und bisweilen auch die Schranken übersteigend) umnetzt und zusehends die Abgrenzungen aufhebt, auch das Publikum sich selber aussetzt.
Peter E. Schaufelberger
Irrwitziges Chaos
Südkurier, Konstanz, 3. Mai 2005
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Wortkrämpfe, Brechkrämpfe, Suchtkrämpfe. Das ganze Leben ein einziger verdammter Krampf. Urs Odermatt inszeniert das unappetitliche Trainspotting als cleanes Sightseeing der Gosse.
Es ist kein Schleck. Obwohl viel geschleckt, geleckt und gehechlt wird. Münder geraten aneinander, ineinander. Körper auch. Frauenkörper, Männerkörper wechselseitig dem eigenen oder dem anderen Geschlecht zugewandt. Rücken an Rücken, Brust an Brust. Mensch an Mensch in Reibungen. Reibereien wie mit Schmirgelpapier, erzeugt durch das Material der Bekleidung (Ausstattung: Rainer Sinell). Uniformen aus Zeitungspapier mit fetten Lettern zum aktuellen Weltgeschehen. „Queen Camilla“ steht da unter anderen wichtigen Vermeldungen zum Lauf der Dinge. Wohl wäre auf dem einen oder andern Ärmel oder Hosenbein auch etwas über Drogentote zu lesen, über Junkies, über Leute wie diese hier, Neun an der Zahl, wie Maden am Boden kauernd, der nackte Beton die Plattform ihrer Verelendung. Das Publikum beäugt das Geschehen aus sicherer Distanz, ein Metallgeländer grenzt ab gegen die Kampfarena. Unten spritzen die Wörter aus den Mündern wie das Blut aus durchstochenen Venen.
Es ist anstrengend. Für alle. Junkie sein ist anstrengend. Junkies zu beobachten ist anstrengend. In der Inszenierung von Urs Odermatt befinden sie sich in einer ununterbrochenen Hektik der Sprache, die satz- und wortweise vom einen zum andern springt und das Nicht-miteinander-reden-Können halsbrecherisch nachzeichnet. Wie ein Orchester für Streich-, Schlag- und Blasinstrumente wird hier über Innenarme gestrichen, in Gesichter geschlagen und weiter unten ständig das Dritte getan. Orgasmen werden hinausgekreischt wie Affengeschrei. Alle sind sie „auf dem Aff“ oder immer auf dem Weg dorthin. Schnell etwas aufköcheln, reinzwitschern; einen „verdammten Schuß“. Die tägliche Abkratzration. Aufgekratzte Haut, ausgekratzte Seelen, gereizte Stimmung, gereizt erzählt. Das sprach- und körperakrobatisch präzis gesetzte Spiel von Livio Cecini als Mark, Tim Lee als Tommy, Hans Rudolf Spühler als McKay, Christian Hettkamp als Simon, Benjamin Plautz als Jonny. Caroline Sessler als Alison, Florian Rexer als Franco, Katja Tippelt als June und Diana Dengler als Mutter gleicht einer mehrarmigen indischen Göttin. Synchron agierend in austauschbaren Handlungsweisen, auf jeden übertragbar wie manche Krankheit.
Urs Odermatt, der sich in der Vergangenheit neben seinen Theaterinszenierungen auch als Filmregisseur hervortat, inszeniert das Buch über Sucht von Irvine Welsh mit dem Lärm, den ein vorüberrasender Hochgeschwindigkeitszug in den Ohren erzeugt und mit seiner Wucht für Sekunden den ganzen Körper ergreift. Die Sprache, sein fast ausschließliches Mittel der Darstellung, setzt er ein wie eine durcheinander geratene Filmspule. Der Blick der Zuschauer ist der der Kamera, die sich nicht bewegt. Mitleidlos und hartnäckig fokussiert sie den Zerfall bröckelnden Lebenswillens nicht als Filmillusion, sondern als authentische Behauptung eines Zustandes. Ein Teufelskreis ohne Schlupflöcher. Wie wilde Raubtiere zerfleischen die Schauspieler dieses Sprachinferno, sie hängen sich an Gitter, lechzen gierig nach Stoff und Stofflichem, greifen ins Leere. Gefangen in sich selber tigern sie im eigenen Dreck, stampfen in der morastigen Brühe von Sucht und Selbstbetrug, halten sich den Daumen auf die Ader wie den Finger auf die Gesellschaft als ihr Ebenbild, ebenso süchtig, hungrig nach jeglicher Art von Empfindungssteigerung.
Doch die Interaktion, die hier stattfinden soll, ist keine, die betroffen macht. Fraglich bleibt, ob beim jungen Zielpublikum die beabsichtigte Diskussion angekurbelt werden kann, ist doch das Stück eher als Kunstinstallation aufgebaut, ähnlich etwa der kinetischen Konstruktion Naun Gabos aus dem Jahre 1920, dessen Aussage darin bestand, ein Kunstwerk bilde nicht die Wirklichkeil ab, sondern folge ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Das Thema Drogensucht und die damit verbundene Aggression und Gewalt wird somit zum abgehalfterten Objekt eines dem Subjekt entfremdeten Vorgangs. Das beste wäre, man besuchte die Vorstellung mit einem Junkie und fragte den danach, wie er sich fühle. Vielleicht wüßte man dann mehr, denn, wie sagt Mark im Stück? „Heroin ist eine ehrliche Droge“.
Brigitte Schmid-Gugler
Auskotzen, das Leben
St. Galler Tagblatt, 30. April 2005
Im Studio des Theaters St. Gallen hatte am Donnerstag Trainspotting von Irvine Welsh und Harry Gibson Premiere. Für die Inszenierung zeichnete Urs Odermatt verantwortlich. Der gleichnamige Roman von Irvine Welsh erschien 1993, dessen Verfilmung und Aufführungen der Bühnenfassung folgten bald darauf. Zwölf Jahre später brachte nun das Theater St. Gallen das Stück zur Schweizer Erstaufführung.
Im Zentrum steht eine Gruppe Mehrfachabhängiger: heroin-, morphium-, alkohol-, sexsüchtig, gescheitert nach gesellschaftlichen Normen, ausgegrenzt. Und zugleich eingegrenzt von Abschrankungen, welche die Spielebene des Theaterstudios umschließen als Abgrenzung zum rundum sitzenden Publikum.
Urs Odermatts Inszenierung ist gnadenlos – in ihrer Unmittelbarkeit, fast noch mehr freilich in der rasanten Choreografie, welche dem Ensemble in papierraschelnden, mit Seiten aus Boulevardzeitungen bedruckten Kostümen eine ungeheure Präsenz abverlangt. Gnadenlos in einer körperlichen Nähe, die keiner Nacktheit oder auch nur Enthüllung bedarf, weil die innere Entblößung nach außen gestülpt wird. Und gnadenlos ist die Inszenierung schließlich im Tempo der Szenenwechsel, des inhaltlichen Umspringens, bei dem der Fokus bald nach außen, auf die Gesellschaft, gerichtet ist, bald nach innen, auf die Aussichtslosigkeit, den Teufelskreis der Drogen und der Beziehungsklüngel zu entrinnen, auf den Alltag.
sda
Gnadenloses Spieltempo
Aargauer Zeitung, 30. April 2005
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Der Roman Trainspotting von Irvine Welsh erschien 1993, dessen Verfilmung und zahlreiche Aufführungen der Bühnenfassung folgten bald darauf. Zwölf Jahre später hat nun das Theater St. Gallen im Studio das Stück zur Schweizer Erstaufführung gebracht. Im Zentrum steht eine Gruppe Mehrfachabhängiger: heroin-, morphium-, alkohol-, sexsüchtig, gescheitert nach gesellschaftlichen Normen, ausgegrenzt. Und zugleich eingegrenzt von Abschrankungen, welche die Spielebene des Theaterstudios umschließen als Abgrenzung zum rundum sitzenden Publikum.
Und doch werden die neun Menschen – sechs Männer, drei Frauen – nicht einfach vorgeführt. Ein irrwitziges Ballett jagt vorüber, Wortkaskaden überschlagen sich, überlagern sich, durchdringen sich, oft kaum verständlich, dann wieder in einem Crescendo-Staccato sich einhämmernd: „Ich bin, ich war, ist alles schnell vorbei!“ Wortkaskaden in einer kaum mehr überbietbaren Direktheit bis hin zur Fäkalsprache und doch wieder abgehoben in ein hochartifizielles Idiom, übersteigert noch durch präzis eingesetztes Stottern oder echohartes Repetieren einzelner Wörter oder Satzfetzen prägten das Stück.
Urs Odermatts Inszenierung verlangt in ihrer rasanten Choreografie dem Ensemble in papierraschelnden, mit Seiten aus Boulevardzeitungen bedruckten Kostümen eine ungeheure Präsenz ab – in einer körperlichen Nähe, die keiner Nacktheit oder auch nur Enthüllung bedarf, weil die innere Entblößung nach außen gestülpt wird. Gnadenlos das Tempo der Szenenwechsel, des inhaltlichen Umspringens, bei dem der Fokus bald nach außen, auf die Gesellschaft, gerichtet ist, bald nach innen, auf die Aussichtslosigkeit, den Teufelskreis der Drogen und der Beziehungsklüngel zu entrinnen; auf den heillosen Alltag: im Rasen von Spiel und Wort ist kein Raum für den moralischen Zeigefinger: Bilder und Satzfetzen hämmern sich ein, das Ausgesetztsein dieser Menschen und ihrer Existenz am Rande des Abgrunds wird beklemmende Gegenwart.
sda
Wortkaskaden
Der Landbote, Winterthur, 30. April 2005