Ob ich nicht Lust hätte, eine Geschichte über ein abgelegenes Dorf in den Bergen zu schreiben, fragte der Regisseur und Filmemacher in etwa tausend Kilometer Entfernung. „Berge?“, fragte ich zurück. Ich stand in Hamburg auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz, und mit dem Handyempfang war irgendetwas nicht in Ordnung. Ja, Berge, sagte er unaufgeregt, ihn würde die Geschichte eines kleinen Bergdorfes interessieren, irgendwo in den Schweizer Alpen, nur Steine, Schweigen und Schnee, ob ich mir vorstellen könnte, darüber zu schreiben?
An diesem Punkt muß ich kurz etwas klarstellen. Meine Eltern sind früher viel umgezogen. Ich wuchs mal hier, mal da auf. Was Heimatgefühle angeht, bin ich von daher nicht so festgelegt. Doch all die wechselnden Landschaften meiner Kindheit hatten eines gemeinsam: Sie lagen am Wasser und waren flach. Berge kannte ich im Grunde nur von der Durchreise – auf dem Weg nach Italien in die Sommerferien. Berge, das waren die Sichtbehinderungen, die am Straßenrand aufragten und mitunter von endlosen Tunneln durchbohrt wurden. Schon als Kind dachte ich bei einem Berg als erstes an die Länge des Tunnels. Und das Erraten von Tunnellängen ist mir noch heute als Beifahrer ein liebgewordener Zeitvertreib. Mit anderen Worten: Ich fühlte mich nicht gerade berufen, die Geschichte eines Schweizer Bergdorfs zu erzählen. Doch es sprang immerhin eine Reise für mich heraus. Also sagte ich ja.
Basel. Die Idee war, zunächst eine kleine gemeinsame Expedition zu machen, sozusagen in der Hoffnung, daß der Berg zu uns spricht. Der Regisseur würde mit mir in ein paar abgelegene Dörfer fahren, um mögliche Schauplätze zu besichtigen. Der Rest wäre Schreiben. Das konnte doch nicht so schwer sein.
Trotzdem war mir etwas mulmig, als ich in Hamburg in den Zug stieg. Geplant war, daß ich erst einmal bis Basel fahre und dort übernachte. Am nächsten Morgen würde ich dann weiterreisen nach Brugg, um dort den Bergregisseur zu treffen. Man müsse früh aufbrechen, meinte er, denn in den Tälern werde es schnell dunkel. Ach, dachte ich und begriff dann, wegen der Berge natürlich!
Der Zwischenstopp in Basel tat gut. Auf diese Weise konnte ich mich mental schon einmal auf die Berge vorbereiten. Die fangen zwar erst hinter Basel an, aber auch in Basel selbst geht es, wie ein berühmter Dichter schrieb, ein bißchen rauf, ein bißchen runter – was im Vergleich zu Hamburg einem Schweizer Bergdorf schon näher kam.
Und außerdem war da der Rhein, an dem ich mich immer zu Hause gefühlt habe. Graugrün und mächtig teilt er die Stadt. Allerlei Wirbel und Quirle spielen auf seiner dämmernden Oberfläche, so als wäre er hier noch gar nicht ein einziger Fluß wie später bei Karlsruhe oder Köln, sondern das Zusammenströmen vieler verschiedener Gewässer: von Bächen, Flüssen und dem Schmelzwasser aus den Bergen, das nach Schnee roch.
Auf meinem späten Spaziergang in Basel am Rhein hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dem Glück auf der Spur zu sein. Es war ein seltsames Wiedersehen mit dem Fluß, weil ich versuchte, in seiner Unruhe immerzu etwas von der Berglandschaft zu erkennen, die mir bevorstand. Und gleichzeitig bewegte das dahingleitende Wasser so viele Erinnerungen an Schwimmausflüge, Brückensprünge und das Treibenlassen in dem schnellgängigen Strom.
Windisch. Ich schwor mir strikte Wasserabstinenz, als ich am nächsten Morgen in Brugg aus dem Zug stieg. Der Bergspezialist unter den Filmemachern holte mich ab, und ich schaffte es, nicht vom Rhein zu reden, als er mich fragte, wie meine Reise gewesen sei. Stattdessen ließ ich, sooft es ging, das Wort „Berg“ fallen und versuchte, dabei nicht an Tunnellängen zu denken.
Aber wir fuhren von Brugg aus gar nicht direkt in die Berge, sondern zuerst nach Windisch, in den Nachbarort, wo der Regisseur im Begriff war, sich auf dem Gelände einer alten Spinnerei ein Loft von der Größe eines Tennisplatzes auszubauen. Die stillgelegte Fabrik lag auf einer Insel in der Reuss, an deren Spitze sich der Fluß teilte. Auf der einen Seite drängte das dunkelgrüne Wasser in einem schnellfließenden Arm unter Gebäuden und Brücken hindurch auf die Flutharken der alten Turbinen zu, die von der Kraft des Wassers vibrierten. Auf der anderen Seite floß der über ein Wehr herabstürzende Strom gemächlich in seinem breiten Bett aus rund gewaschenen Findlingen und moosigen Ufersteinen.
Es war unmöglich, an diesem Ort nicht vom Wasser zu sprechen. Und der Regisseur erklärte mir bereitwillig, man nenne diese Gegend auch das „Wasserschloß“, nicht etwa, weil es ein solches Bauwerk gebe, sondern weil sich an diesem Punkt die wichtigsten Flüsse der Schweiz zusammenschlössen. Die Reuss aus dem Süden, die Limmat aus dem Osten und die Aare aus dem Westen vereinigten sich hier und mündeten dann in den Rhein. Ich war völlig verwirrt.
Der Regisseur mehrerer einschlägiger Bergfilme hatte Mühe, mich von den Brückengeländern und Flußufern loszueisen, als wir zu seinem Wagen zurückgingen. Grünes, frisches Wasser umgab uns, wo ich auch hinschaute, wirbelnd und einladend klar! Von den Häusern am Reussufer führten Treppen hinab in den Fluß. Im Sommer stiegen die Anwohner hier ins Wasser, um sich von dem Strom bis zur nächsten Brücke tragen zu lassen. Für einen leidenschaftlichen Schwimmer wie mich war es geradezu unvorstellbar, diese Flußlandschaft hinter mir zu lassen, ohne auch nur einmal ins Wasser gesprungen zu sein und seine geschmeidige Kühle auf meinen Schläfen gespürt zu haben. Doch es war einige Grade unter null.
Was mir denn für eine Geschichte vorschwebe, fragte mich der Regisseur, als wir wieder im Wagen saßen und durch Windisch kurvten. Ich schwieg. Zum einen, weil ich die letzten Flußansichten nicht verpassen wollte. Zum anderen, weil sämtliche Geschichten, die mir im Moment durch den Kopf gingen, Geschichten vom Wasser waren.
Isenthal. Schweigend durchquerten wir die Alpen. Von den Bergen war nicht viel zu sehen. Hochnebel hatte eingesetzt und das Panorama in winterliche Grauschleier gehüllt. Felswände verloren sich schon nach wenigen Metern in undurchdringlichem Dunst. Einzig die Tunnel deuteten unmißverständlich darauf hin, wo wir uns befanden. Und ich ertappte mich dabei, wie ich unwillkürlich versuchte, anhand der Tunnellänge auf die Höhe der Berge zu schließen. Die Strecke kam mir aus Kindertagen bekannt vor. Als wir den Vierwaldstättersee schräg unter uns liegen sahen, sagte ich nichts.
Wir verließen die Autobahn und fuhren in einer Schleife auf die Urner Alpen zu, um eines der weniger besiedelten Ost-West-Täler anzusteuern. Eisblauer Dunst durchbrach die gleichförmige Nebeldecke und fiel wie in sich überschlagenden Wellen die Steilhänge herab. Kälteblau, konstatierte der Bergkenner knapp. Wir kamen noch einmal fast auf Wasserspiegelhöhe am Vierwaldstättersee vorbei, dann ging es in Serpentinen steil und unerbittlich aufwärts.
„Ich hoffe, du hast keine Höhenangst“, sagte der Regisseur, während wir uns durch blauende Schneelandschaften den Berg hinaufwanden. Höhenangst nicht, dachte ich bei mir, nur Angst vor der Tiefe. Ich schaute über die Leitplanken abwärts, sah aber nur ein paar Meter zerklüfteten Stein, der in bauschige Wolkenmeere hinabtauchte. Schnee und Nebel wurden immer dichter, die Straße verengte sich zusehends. Für entgegenkommende Fahrzeuge war schon lange kein Platz mehr. Mir wurde auf einmal bewußt, daß uns auf der ganzen Strecke keine Menschenseele begegnet war. Wir näherten uns Isenthal.
Der Regisseur hatte hier oben vor Jahren einen Film gedreht: die Geschichte eines Bergbauern, der sich eine Asiatin kauft und heiratet, um die Einsamkeit zu besiegen – was das ganze Dorf gegen ihn aufbringt. Dabei bekam es der Regisseur schon sehr bald selbst mit dem Dorf zu tun. Um überhaupt eine Dreherlaubnis zu erhalten, mußte er der Gemeinde seine Filmidee vorstellen, wohlgemerkt, nicht einem Gemeinderat oder sonst einer Vertretung, sondern sämtlichen Dorfbewohnern. Dann wurde basisdemokratisch abgestimmt. Eine knappe Mehrheit war für den Film, unter einer Bedingung: Das Team mußte in den beiden verfeindeten Dorfkneipen gleich viel Geld ausgeben.
Wir hielten auf einem verschneiten kleinen Parkplatz vor dem Friedhof und stiegen aus. Isenthal bestand aus einer Dorfkirche mit einem irreal roten Zwiebelturm und vielleicht zwanzig geschindelten Häusern. Mit seinen beiden Kneipen war es das Zentrum des Tals. Aus den Bergen kamen die Bauern mit selbstgebauten Seilbahnen in den Ort. Allerdings gingen Mann und Frau so gut wie nie zusammen aus. Einer mußte immer oben bleiben, um die Seilbahn zu bedienen.
Ich war in eine völlig fremde Welt geraten und fühlte mich wie der unbefugteste Alpinist aller Zeiten. Der Regisseur ließ den Wagen stehen und marschierte entschlossen weiter bergauf. Er wollte zu dem Hof, auf dem seinerzeit sein einsamer Filmbauer gehaust hatte.
Wir hatten keine fünfhundert Meter zurückgelegt, als sich der Nebel auf einmal lichtete. Schroffe Felswände erhoben sich ringsum, überzogen von Schneeadern und dünnen Vegetationsstreifen. Die kantigen, marmorweißen Gipfel erstrahlten in der untergehenden Sonne und ragten wie ausgeschnitten in den unverwandt blauen Himmel.
Wir stiegen noch hundert, zweihundert Meter höher und hatten jetzt auch freie Sicht ins Tal, wo das Dorf im Schneekugelformat vor sich hin träumte. Ein Wunder, daß es plötzlich so aufgeklart sei, staunte ich. „Thermik“, sagte der Regisseur.
„Und was ist das?“ Das Knattern naher und ferner Motorsägen war für einen Moment verstummt und ließ ein beständiges Rauschen hören, das die gesamte Stille des Tals zu umfassen schien. „Das?“ Der Regisseur horchte kurz auf. „Der Bach.“ Er zeigte auf eine verästelte schwarze Furche im Schnee, die auf einen ovalen Kolk zulief, wo sich das Schmelzwasser glitzernd sammelte.
Das Felsenbecken war vielleicht zweieinhalb Meter tief, doch man konnte bis auf den Grund sehen, wo sich die Kiesel wie hinter einem blaugrünen Schleier einzeln abzeichneten. „Blaugrün" war nicht ganz das richtige Wort.
„Wenn du hier ins Wasser spuckst“, grinste der Regisseur, „dann fließt es durch den Vierwaldstättersee die Reuss hinab zum Wasserschloß und weiter in den Rhein.“ Ich starrte auf das zusammenströmende Wasser mit dieser unfaßbaren Farbe, die weder türkis war noch aquamarin, sondern bei aller Klarheit den Eindruck einer ungeheuren Tiefe, ja Ferne vermittelte. Es war – gewissermaßen – Kälteblau!
„Was ist“, erkundigte sich der Regisseur, eher besorgt als neugierig, „hast du eine Idee?“ – „Kann sein“, murmelte ich und versuchte dabei, möglichst nachdenklich auszusehen, aber in Wirklichkeit war ich einfach nur glücklich.
John von Düffel
Stein und Wasser – die Schweizer Alpen aus der Sicht eines leidenschaftlichen Schwimmers
Die Zeit – Literaturbeilage, Hamburg, Dezember 2001
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Mit der Geschichte eines Nidwaldner Bergbauern, der sich eine Braut in Thailand kauft, weil ihn keine Einheimische will, wurde Urs Odermatt 1988 über Nacht berühmt. Bald darauf begann sein Nomadenleben als begehrter Drehbuchautor und Regisseur in Deutschland. Sein jüngster Film Der böse Onkel spielt im Aargau – weil er einmal beim Drehen zu Hause schlafen wollte.
Was für viele selbstverständlich ist, kannte Urs Odermatt bis zum Start der Aargauer Dreharbeiten seit bald zwei Jahrzehnten nicht mehr: nach der Arbeit in die eigenen vier Wände zurückzukehren. „Ich habe in so vielen Hotels übernachtet, daß ich sie nicht mehr zählen kann.“ Viel mehr als vier Wände hat der Rückzugsort des Wahlaargauers, der nahtlos zwischen zwei Mentalitäten hin- und herpendelt, nicht: „Bei der Arbeit fühle ich mich als Deutscher, als Bürger bin ich Schweizer“, meint er und erklärt, daß er heute nur noch einen Raum zum Wohnen und Werken brauche, weil er konsequent Ballast abgeworfen habe. Dieser Raum, ein luftiges Loft in der stillgelegten Spinnerei direkt an der Reuss im alten Dorfkern von Windisch, scheint für den besessenen Regisseur und Filmemacher wie geschaffen. „Eigentlich sparte ich für ein irisches Cottage am Atlantischen Ozean, aber als ich den Edelrohbau in Windisch sah, war es um mich geschehen.“
Seine Partnerin, die sich beim Kaffee im Aarauer „Einstein“ in den Regisseur und sein jüngstes Drehbuch verliebt hat, teilt die bedingungslose Begeisterung: „Direkt am Fluß zu wohnen, ist sehr romantisch“, meint Jasmin Morgan. Nur einen Katzensprung entfernt liegt das Produktionsbureau des Schweizer No-Budget-Films, in dem es um Mißbrauch und Einsamkeit geht. „Der Goodwill der Bevölkerung war entwaffnend“, berichtet die Filmcrew. Die Gemeinde Windisch stellte der bunten Truppe, die an rund neunzig Drehorten quer durch den Kanton im Einsatz war, die Räumlichkeiten der Zivilschutzanlage zur Verfügung, Anwohner beherbergten die Crewmitglieder. Der böse Onkel wird von einem beseelten Regisseur und seinem Team getragen. Alle Beteiligten wirken gratis mit – der Lohn ist die Zusammenarbeit mit Urs Odermatt. Später werden allfällige Erlöse in der Crew ausgeschüttet. „Für jede Hauptrolle haben wir rund vierhundert Schauspieler gecastet“, erzählt Produzentin Jasmin Morgan.
Umgangssprache am Set ist nicht Mundart, sondern Deutsch. Ein Großteil der Mitwirkenden kommt aus Hessen und Berlin, zwei Hauptdarsteller sind Schweizer. „Urbane Agglomerationen in Deutschland sind mit hiesigen vergleichbar“, erklärt der Regisseur und betont, seine Geschichte können in jeder Gegend spielen, wo in einer geschlossenen Gesellschaft jeder jeden kenne und jeder von jedem alles wisse. Den Vorwurf, sein Film zeige die wahre Dorftragödie, die sich in den achtziger Jahren in Möriken-Wildegg abgespielt hatte, weist Urs Odermatt zurück. Da er nicht recherchiere, sondern in den eigenen Abgründen forsche und entdecke, erzähle er ein fiktive Geschichten. Die Anschuldigung, sein Filmbösewicht sei der Aargauer Turnlehrer Köbi F., der wegen sexueller Übergriffe an Schülerinnen verurteilt wurde, nimmt er gelassen: „Immer wenn ich einen Film drehe, melden sich Leute, die sich betroffen fühlen, sei das in Reutlingen, Möriken oder Berlin.“
Wer fasziniert mehr in seinem neuen Werk, Täter oder Opfer? „Der böse Onkel, weil in jedem von uns ein Stück Täter steckt; allerdings verdrängen wir dunkle Seiten gern.“ Eine heikle Geschichte auf die Bühne oder Leinwand zu bringen, ist für Odermatt, der sich schon in Tatort und Polizeiruf 110 an menschliche Dramen wagte, eine Methode, potenzielle Straftäter am Verdrängen zu hindern – somit der beste Opferschutz. Daß er sich heute die künstlerische Freiheit nehmen kann, ein Spaziergänger der Seele zu sein, betrachtet der ausgewanderte Nidwaldner als Privileg. „Ein Film ist gut, wenn er mir selbst gefällt.“ Bekommt er eine Anfrage für einen Produzentenfilm, sagt er auch bei großzügigem Honorar nur zu, wenn er die Besetzung bestimmen kann, eine Haltung, die ihn mit fast allen großen deutschen Darstellern zusammengebracht hat. „Bekäme ich bei der Wahl der Schauspieler freie Hand, würde ich das Telefonbuch von Hannover verfilmen“, meint er schelmisch. Und es drängt sich die Vermutung auf, daß selbst daraus ein spannendes Drehbuch entstünde.
Barbara Rüfenacht
Ein Spaziergänger der Seele
Aargauer Zeitung, Aarau, 5. September 2009
(...) Radikal konsequent hat der Nidwaldner Urs Odermatt seinen Traum vom Wohnen umgesetzt und mit altem Wohnstil gebrochen. Ende 2000 entschloß sich der Autor, Theater- und Filmregisseur (Wachtmeister Zumbühl, Gekauftes Glück), einen Loft in der alten Spinnerei zu Windisch AG zu erwerben. Die ganze Fabrikliegenschaft der Spinnerei Kunz AG, 1829 gegründet, wurde 1941 an Oerlikon-Bührle verkauft und 1999 von Markus Ehrat erworben. Der Besitzer entwickelte zusammen mit der Architektengemeinschaft 4 das Konzept, die Industriebauten inmitten der Reuss in Lofts umzuwandeln. „Meine Idee, die Gestaltung des Endausbaus den Käufern zu überlassen, fiel auf fruchtbaren Boden. Die Gebäude wurden saniert und als Edelrohbau mit kompletter Infrastruktur fertiggestellt“, schreibt Ehrat im Vorwort seines aufschlußreichen Bildbands 31 Lofts (Offizin Verlag, Zürich 2004).
„Ja, so war es, aus einer Ruine wurde Wohnraum“, bestätigte Bauherr Odermatt. Die Innenarchitektur hat Alexandra Schild übernommen. „Am Anfang war der Raum eine Herausforderung – durch seine Akustik, durch riesige Fensterflächen und die fehlende visuelle Privatsphäre. Dieses absolute Raumerlebnis hat uns fasziniert. Ich habe die Reduzierung aufs Wesentliche gesucht, die befreiende Askese, den klösterlichen Minimalismus in diesem Loft. Keine Ablenkung mehr beim Schreiben. Die Größe und Leere des Raums dienen der eigenen Kreativität, werden zur kreativen Aufforderung – wie ein leeres Blatt Papier.“ Verzicht als Luxus. Spartanisch mutet der Wohnraum an. Kein Platz für Schnickschnack in dieser ehemaligen Werkhalle mit den eisernen Stützen, keine Bilder an den Wänden, keine Teppiche, keine Pflanzen. Ein Loft auf drei Farbtöne beschränkt. Nur eine Katze schnurrt durch den lichten Raum (360 m²), keine Türen versperren ihr den Weg. Allein den WC-Kubus gestand man als Fremdkörper zu.
Urs Odermatt und Alexandra Schild haben zwei Jahre an der Ausstattung und Formung des Projekts gearbeitet, Odermatt hat den Loft Anfang 2002 bezogen und keinen Tag an dieser einmaligen Lage direkt an der Reuss bereut. Lebens-, Wohn- und Arbeitsraum fügen sich zu einem Gesamtkunstwerk. Der kreative Geist Urs Odermatt hat hier eine ideale urbane Wohnform gefunden und lebt sie aus – dreißig Autominuten von Kloten und vierzig von Basel entfernt. (...)
Rolf Breiner
Die offene Art zu wohnen
Immobilien Business, Juni 2006
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Bereits von außen ist das Außergewöhnliche greifbar. Majestätisch stehen sie da, die über 180jährigen Fabrikgebäude der ehemaligen Spinnerei Kunz im aargauischen Windisch. Auf einer rund einen Kilometer langen Flußinsel gelegen, von der Reuss und dem Kraftwerkskanal umflossen, entsprechen die drei in Lofts umgebauten Hallen und das dazugehörende Areal dem Traum vom großzügigen Wohnen. Der Blick in den langgezogenen Loft von Urs Odermatt, 51, bestätigt den Eindruck von außen: Hier ist Ausgefallenes angesagt. Der Filmregisseur wohnt in einem Raum auf 360 Quadratmetern Fläche (Reduktion auf das Wesentliche: Die Innenarchitektin Alexandra Schild war für den Umbau des Fabriksaals verantwortlich). Der fast vier Meter hohe Loft, gestützt von achtzehn alten Stahlsäulen, ist dank riesiger Fensterfront lichtdurchflutet – und fast leer. Ein Eßtisch, zwei Bürotische, ein Sofa, ein Bett. WC und Bad sind in einer Art Box untergebracht, die offene Küche ist zentral angesiedelt. Weder Bilder noch Photos zieren die weißen Wände, der Riemenboden aus Eichenholz spendet wohnliche Wärme.
Der Raum wirkt karg und nüchtern, aber nicht kalt oder steril. Odermatt, der zuvor in einer „normalen“ Mietwohnung im Zürcher Unterland wohnte, fand an der Reuss das Gesuchte: „Einen Raum zum Wohnen und Arbeiten mit viel, viel Platz und freier Sicht.“ Der Kaufentscheid fiel innert Sekunden. „Ich habe die Industrieruine von innen besichtigt – und umgehend den Kaufvertrag unterschrieben“, erinnert er sich. Seit dreieinhalb Jahren wohnt der Filmregisseur (Gekauftes Glück, Wachtmeister Zumbühl, TV-Reihen wie Tatort oder Polizeiruf 110) nun an der Reuss. „Den Kaufentscheid habe ich nie bereut. Es ist das beste, was ich je gemacht habe.“ Die Leere, die Weite. „Diese Wohnbedingungen möchte ich nicht mehr missen. Sie haben fast Suchtpotenzial.“
Das Leben in einem echten Loft (historische Bausubstanz, ein einziger Raum) ist eine eher eigenwillige Wohnform. Es gibt keine Rückzugsorte, die Privatsphäre ist stark eingeschränkt. Das weiß auch Urs Odermatt: „Das Wohnen in einem echten Loft ist sicherlich kein Modell für eine Familie.“ (...)
Vor sechs Jahren hatte der Dietiker Immobilienhändler Markus Ehrat die heute denkmalgeschützten Gebäude am Kanal gekauft und diese zu Lofts umbauen lassen. Die Käufer erwarben eine gewünschte Anzahl Quadratmeter Wohnfläche als Stockwerkeigentum und bauten diese nach ihren eigenen Ideen aus.
FS
Kein Wohnmodell für die breite Masse –
Urs Odermatt wohnt im Loft in Windisch
Cash, Zürich, 24. Mai 2006
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Der Nidwaldner Regisseur Urs Odermatt ist im heutigen Abendprogramm gleich doppelt vertreten: Das Schweizer Fernsehen zeigt seinen Film Wachtmeister Zumbühl und die ARD seine Polizeiruf-110-Folge Kleine Dealer, große Träume.
Eine nackte Schöne rennt wie von Sinnen nachts über den nassen Asphalt. Die Kamera kostet den Anblick genüßlich aus, erinnert gar an den Vorspann der Krimireihe Tatort, ehe das Mädchen in den Armen eines jungen Mannes landet. „Küß mich!“, fordert sie ihn auf. Sie kann kaum, wie der Zuschauer erst vermutet, vergewaltigt worden sein. Sie heißt Bibi, ist minderjährig, erwartet ein Baby und ist im Drogenrausch Hals über Kopf aus ihrem Wohnheim abgehauen.
„Bei der Wahl der Drehbücher bin ich nicht heikel“, sagt Regisseur Urs Odermatt (41). „Wenn ich bei Besetzung und Inszenierung große Freiheit genieße, empfinde ich es gar als reizvoll, mittelmäßigen Stoffen auf die Sprünge zu helfen.“ Mit der beschriebenen Eröffnungssequenz von Kleine Dealer, große Träume dürfte er erreichen, daß die Zuschauer nicht gleich zum nächsten Sender zappen, wenn sie merken, daß kein Tatort, sondern die ehemalige DDR-Krimiserie Polizeiruf 110 am Bildschirm läuft.
Der Stanser, der seine Heimat in Gekauftes Glück und Wachtmeister Zumbühl als spießig-miefig beschrieben hat, ist selbst Voyeur wie sein Publikum; Nacktszenen gehören in den Filmen zur Grundausstattung. Die Schaulust beschränkt sich jedoch nicht auf erotische Motive. Odermatt liebt es, seine Geschichten mit skurrilen Figuren und grotesken Szenen anzureichern. „Deutsche Krimis sind in der Regel von einer geradezu radikalen Humorlosigkeit“, erklärt der Schweizer Regisseur. „Mein Stil orientiert sich an englischen und österreichischen Vorbildern wie Kottan ermittelt.“
Odermatts Vorliebe für Skurriles wirkt gelegentlich etwas aufgesetzt und das im wahrsten Sinne des Wortes. Im Polizeiruf 110 spielt der Schweizer Tatort-Kommissar László Kish eine Nebenrolle; Odermatt hat ihm, der einen gewalttätigen Dealer verkörpert, ein „schielendes Glasauge“ verpaßt. Doch das Requisit hatte in Kishs Gesicht kaum Platz. Nur unter leichter Betäubung des gesunden Organs und permanentem Auf-die-Zähne-Beißen konnte er das Glasauge zweimal pro Tag für eine halbe Stunde überstülpen. So verwundert es nicht, daß Kish nach sechs Drehtagen meinte: „Ich arbeite gerne wieder mit Odermatt, aber ich spiele nie mehr einen Mann mit Glasauge!“
Reinhold Hönle
Der Voyeur hinter der Kamera
Sonntagsblick, Zürich, 16. Juni 1996
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Jetzt sind sie in Zürich angekommen, die Photos von Arnold Odermatt aus dem Nidwaldner Polizeialltag, die um die Welt reisten und zwischen Buchdeckeln veröffentlicht wurden. Unter dem Titel Focus Photographie: Arnold Odermatt zeigt die Galerie Lelong Karambolagen und Karosseriestilleben aus den fünfziger und sechziger Jahren, die Odermatt als Polizeiphotograph aufgenommen hatte. An der auch von Hugo Loetscher besuchten Vernissage verriet der rüstige Photorentner Klein-Report-Mitarbeiter Rolf Breiner, daß er immer noch auf eine solide Kleinbildkamera und nicht auf eine Digitalkamera setze.
„Ich dachte, meine Bilder interessieren niemanden und habe sie dem Sohn übergeben“, erzählte Odermatt senior. Odermatt junior wurde überaus aktiv und wertete nicht nur die Polizeiphotos aus, sondern öffnet demnächst ein neues Kapitel der Odermattschen Photoschatztruhe: In zivil heißt das vierte Buch aus dem Nidwaldner Fundus des Arnold Odermatt. Der Bildband wird bei Steidl erscheinen, herausgegeben von Urs Odermatt. „Familienaufnahmen – farbig und schwarzweiß“ klärte der Patron auf. „Auch einige Selbstporträts. Ich habe mich mit nacktem Oberkörper photographiert, um gewisse Lichtverhältnisse zu testen.“
Urs Odermatt hat nicht nur die Photosammlung von Arnold Odermatt im Griff und vermarktet sie geschickt, sondern auch sein jüngstes Kinoprojekt Mein Kampf. Der Film, nach der Groteske von George Tabori in Zittau und Wien gedreht, weist mit Götz George als Juden Schlomo und Tom Schilling als jungen Hitler eine namhafte Besetzung auf. Mein Kampf wird zur Zeit in Zürich geschnitten und soll nächstes Jahr herauskommen. „Am liebsten an der Berlinale“, wünscht sich Regisseur Urs Odermatt. Übrigens war Arnold Odermatt Standphotograph beim Drehen von Wachtmeister Zumbühl, eine Rolle, die Jasmin Morgan, Lebenspartnerin von Urs Odermatt, bei Mein Kampf übernommen hat. „Hat Spaß gemacht und war anspruchsvoll. Ich habe auch das Making-of gedreht“, verriet sie dem Klein Report.
Rolf Breiner
Odermatt im Doppelpack: Buch und Film
Klein Report, Zürich, 28. Juli 2008